Niemand kauft gerne die Katze im Sack, jeder möchte einen Blick auf das werfen dürfen, was später unterhalten soll. Also bietet man Leseproben an, deren Aussage nicht immer den Wünschen des Lesers entspricht. Leseproben beginnen oft vorne und da passiert nicht gerade das Spektakulärste.
Hiermit genießt der Leser eine Leseprobe ganz anderer Art. Hier darf von jedem Kapitel die jeweils erste Seite gelesen werden. Es gibt nur einen Wertmutstropfen und das hat seinen Sinn: es wird kein Buchstabe des letzten Kapitels zu sehen sein, oder im Vorfeld verraten. Das letzte Kapitel steht jedoch komplett im Buch.
Blutige Selbstjustiz – Drama im Gerichtssaal
Erst kam der Täter in Handschellen, dann lag er tot auf dem Boden. „Er schoss ihm sein überhebliches Grinsen aus dem Gesicht“, berichtete eine Augenzeugin.
Unser Gerichtsreporter war live vor Ort, um über die Verhandlung gegen den gemeinsten Bankräuber des Jahres zu berichten. Aus dem Routinejob wurde ein aufregender Krimi. „Auf solch eine Story habe ich mein ganzes Leben lang gewartet.“, freute er sich.
Ein bislang unbekannter Mann erschoss den mutmaßlichen Täter im überfüllten Gerichtssaal – vor den Augen des Richters und der erschrockenen Anwesenden. Just in dem Moment, als der Anwalt des Angeklagten auf „unschuldig“ plädierte. Wie der Mann die Pistole trotz erhöhter Sicherheitsvorkehrungen an den Wachmännern vorbeischmuggeln konnte, ist nicht bekannt. Gegen die Wachleute wird inzwischen gesondert ermittelt.
„Es werden Köpfe rollen“, wetterte der Anwalt, nachdem nur noch der Tod des als „Bankbestie“ bekannten Mörders festgestellt werden konnte. Der Richter hatte Mühe, die Situation in den Griff zu bekommen und für Ruhe im Gerichtssaal zu sorgen. Viele der Anwesenden standen auf der Seite des Schützen, einige applaudierten sogar. Der Mann, bei dem es sich um den Ehegatten der jungen Frau handeln soll, die bei dem Banküberfall brutal ums Leben kam, wurde von den Augenzeugen als Held bezeichnet. Niemand will gesehen haben, wohin er nach diesem Akt der Selbstjustiz verschwand. Der Schütze befindet sich auf der Flucht.
Stellenangebote
Gregory war für ein paar Tage bei einem Freund untergekommen, saß am Frühstückstisch und studierte aufmerksam die Stellenangebote. Seine Siebensachen standen griffbereit neben ihm. Die Zeitung hatte er sich beim Nachbarn gegenüber ausgeliehen. Dort lag sie vor der Tür. Der Nachbar hatte sie sicher schon gelesen. Um halb acht Morgens kann man davon ausgehen. Außerdem stand kein Name drauf, es sei denn, der Nachbar hieße ‚Tageszeitung’.
In der Rubrik für ‚Privates Personal’ stand ‚Butler für gehobenen Haushalt mit besonderem Aufgabenbereich gesucht‘. Er las es noch einmal laut vor und nickte bestätigend, denn schließlich hatte er sich vor einigen Jahren schon in London zum Butler ausbilden lassen.
„Hier spricht Gregory Sebelius“, sagte er, als er dort anrief und auf eine Frauenstimme traf, die sich mit „Hallo!“ meldete. „Ich rufe wegen der Anzeige in der Tageszeitung an. Sie suchen einen Butler? Ich bin Butler.“
„Wir suchen einen Butler mit einem ganz bestimmten Aufgabenbereich“, ergänzte die Frauenstimme.
„Das ist gar kein Problem“, meinte Gregory. „Wir sollten einen Termin vereinbaren, dann können Sie mir alles Weitere schildern“, fügte er souverän an.
„Gerne“, ertönte es am anderen Ende der Leitung. „Haben Sie etwas zum Schreiben zur Hand, dann gebe ich Ihnen die Adresse“, sagte die Frauenstimme abschließend.
Man verabredete sich für zwei Uhr Mittags desselben Tages. Gregory nahm sich ein Taxi und hinterließ eine Nachricht für seinen Freund auf dem Tisch. Das Taxi fuhr in eine äußerst exklusive Wohngegend im Vorstadtgebiet und dort auf eine riesige, schneeweiße Villa zu.
Vom Butler zum „Edelsklaven“
Sie duzte ihn plötzlich, aber es klang nicht herablassend oder beleidigend. Es hatte etwas respektvoll Freundschaftliches.
„Wir werden dich ‚S‘ nennen“, bestimmte sie plötzlich. „Nein“, korrigierte sie, „wir werden dich ‚Es’ nennen.“
Sie deutete auf einen Raum und erklärte, dass sich dort das Schlafzimmer befand und er seine Sachen im Schrank unterbringen konnte.
Soll mir alles recht sein, dachte Gregory. Dann wollte sie noch seine Konfektions- und Schuhgröße wissen.
„Damit deine Dienstgarderobe ordentlich aussieht“, sagte sie.
Am späten Nachmittag erklang der Gong der Haustür.
„Will ‚Es’ nicht öffnen?“ Ihre Stimme schallte unüberhörbar durch den Flur. Dieses „S“ kratzte an seinen Trommelfellen wie Fingernägel auf einer Schultafel. Man musste in einem anderen Land wohnen, um so weit davon entfernt zu sein, es nicht mehr zu hören. Gregory musste sich umgehend an mindestens zwei neue Umstände gewöhnen. Erstens war er von nun an für die Haustüre zuständig und hatte sie bei Bedarf zu öffnen und zweitens hieß er per sofort nur noch „Es“. Er eilte also zur Türe, nachdem der Gong erneut ertönte, und öffnete einem Boten. Offensichtlich wurde Gregorys Kleidung schon geordert und gerade geliefert.
„Ich komme von der Berufsklei…“, setzte der Bote an.
„Wunderbar, das nenne ich prompt“, rief sie aus dem Wohnzimmer und schnitt den Text des Boten ab!
„Nimm die Pakete und probier die Sachen an“, rief sie weiter. „Hat ‚Es’ verstanden?“
Der kochende Holländer
„Mist“, sagte Gregory, als er die Hälfte des Flures hinter sich hatte, „es ist nichts zu riechen, nicht zu hören, nichts zu …“
Er stand da wie aus Beton gegossen und lauschte gespannt in eine Richtung, als ob er von dort ein Geräusch vernommen hätte.
„Sei bloß leise“, hörte er eine Stimme. Aber diese Stimme kannte er nicht. Gregory schlich vorsichtig den breiten Flur entlang in Richtung des Geräuschs.
„Kommst du jetzt her“, sagte dieselbe Stimme wieder und gab Gregory weiterhin die Richtung vor.
Aha, dachte er und bog vor dem Wohnzimmer links in einen anderen Flur. „Da muss es sein“ sagte er zu sich selbst und pirschte zur nächsten Türe, hinter der er die Stimme vermutet. Aber wer sollte leise sein und warum nur? Es war doch eine Küche und in Küchen entstand immer ein gewisser Radau durch das Klappern der Töpfe und Schüsseln. Seltsam. Vielleicht hatte der Koch ein Verhältnis und brachte es mit in die Küche? Aber wer konnte das sein? Die Stimme war nicht zu erkennen. Es war nicht so richtig gesprochen, mehr schon gehaucht. Es hätte eine Männer-, aber ebenso gut auch eine Frauenstimme sein können. Die nächste Tür hatte wieder kein Fenster, man konnte nicht reingucken. Ich kann doch jetzt nicht einfach die Tür aufmachen. Wir sind doch hier nicht bei der Bundeswehr.
Und wenn ich vorher anklopfe?, dachte Gregory. Dann gibt man doch eine Art Warnschuss ab und gewisse Personen bekommen ein paar Sekunden Zeit, sich zu wieder herzurichten.
„Wirst du wohl endlich herkommen“, hörte Gregory die Stimme sagen, jetzt ganz deutlich hinter der Türe, und vernahm gleichsam etwas Bedrohliches darin.
Tischgespräche
Gregory ging mit der Vase in der Hand ins Esszimmer und hätte vor Schreck fast alles fallen lassen. Die Herrschaften hatten schon an der Tafel Platz genommen. Sie saßen sich am rechten Ende der Tafel gegenüber. Das Kopfende war unbesetzt. Jedenfalls noch, denn vielleicht würden noch weitere Personen zum Abendessen eintreffen.
Gregory stellte die Vase in der Tischmitte ab, richtete sie noch einen Augenblick aus und stand verlegen da. Aus seinen Augenwinkeln bemerkte er, dass er seitens seiner Herrschaften nicht eines Blickes gewürdigt wurde. Und wieder traf ihn fast der Schlag, als er bemerkte, dass er seine Herrschaften noch nicht standesgemäß begrüßt hatte. Er schickte sich umgehend an, dieses Defizit nachzuholen.
Beginnend bei ihr fiel Gregory auf die Knie und fuschelte unterm Tisch nach ihren Füßen. Sie drehte sich in seine Richtung und ließ Gregor an ihren Füßen riechen. Nach einigen kurzen Momenten drehte sie sich wieder zurück und gab Gregory damit zu verstehen, dass er sich nun seinem Herrn zu widmen hatte. Also richtete sich Gregory auf, ging um das Kopfende des Tisches und begab sich erneut auf die Knie, um seinen Herrn gebührend zu begrüßen. Hier hatte er es ein wenig leichter. Sein Herr hatte seine Sitzposition bereits geändert und Gregory tat, was er tun musste. Er begrüßte nun auch seinen Herrn entsprechend.
Nachdem sich Gregory wieder auf seine Füße begeben hatte, legte er seinen Herrschaften von den zubereiteten Meeresfrüchten vor, schenkte die Gläser voll, machte einen Schritt zurück in Richtung Wand und stand erneut recht verlegen da, denn sein Magen knurrte vernehmbar. Er sollte nicht da stehen, sondern Platz nehmen.
„‚Es’ kann sich dort hinsetzen“, sagte der Familienvorstand und wies mit seinem Blick auf den Stuhl des Tischendes.
Taufe im Pool
Wahrscheinlich gingen beide nach oben in ihre Schlafzimmer und zogen sich um. Sie schliefen getrennt. Jeder besaß ein eigenes Zimmer mit angrenzendem Bad. Vielleicht schnarchte er sehr laut, oder sie, oder beide. Oder sie waren gar nicht verheiratet, sondern Geschwister. Das hätte vieles erklärt, was gewisse Verhaltensweisen anging. Vielleicht waren sie so etwas wie eine Feudal-WG?
Vielleicht, wenn und hätte. Annahmen, Spekulationen und Mutmaßungen. Genau wie damals im Justizpalast, als er die Nerven verloren hatte. Gregory konnte es doch völlig egal sein, wer oder was sie waren. Hauptsache war doch, dass er dort Unterschlupf fand und ihm niemand unangenehme Fragen stellte.
Er aß wie ein Ausgehungerter und fragte Jan durch die geöffnete Luke, wo er das Geschirr hinstellen solle. Jan stand außerhalb seines Blickwinkels, aber irgendwie hatte Gregory das Gefühl, dass Jan absichtlich dort stand.
„Immer her damit“, sagte Jan plötzlich und stand in der Küche vor der Luke. „Dafür steht hier eine hochmoderne Spülmaschine parat. Das Maschinchen kostet ein Vermögen und spült besonders teures Geschirr supersanft sauber. Man darf aber nur dieses Spezialsalz verwenden“, flötete Jan und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf die Packung mit dem Salz.
„Du hörst dich an wie jemand aus dem Werbefernsehen“, sagte Gregory und räumte den Tisch ab. Gregory war sich nicht sicher und startete einen Schuss ins Blaue. „Sag mal, Jan“, pirschte er sich vor. „Mit wem hast du denn gerade telefoniert?“
Tausche Gregory gegen Es
Gregory saß auf seinem Bett und schaute sich suchend um. Zumindest besaß er jetzt einen Wecker, in Form eines Handys. Er holte es aus seiner Hosentasche und stellte es von Klingeln auf Vibrationsalarm um. Nichts wäre peinlicher gewesen als ein klingelndes Handy am Morgen. Er besaß aber auch eine Wohnungstür, die sich nicht verschließen ließ, und einen Schrank voller Dienstkleidung, die einem Faschingskostüm ähnelte.
Er hatte Arbeitgeber, denen ab und zu die Sicherung rausflog oder die Gäule durchgingen. War das nun sein neues Leben? War hier die Endstation? Hatte er davon schon jemals geträumt? Tausende von Fragen schossen durch seinen Kopf und alle baumelten wie lose Fäden an ihm. Unbeantwortet rannten sie im Kreis oder wurden zertreten, wie ein Zigarettenstummel auf der Straße.
War hier das Ziel seiner Fantasie? Er wusste es nicht und kannte niemanden, den er hätte fragen können. Gregory beherrschte mehrere Sprachen, war belesen, gebildet und hatte eine gute Erziehung genossen, wie man so sagt. Die ganze Welt wartete auf ihn, aber er tauschte Gregory gegen „Es“.
Was wäre aber die Alternative? Wohin würde er gehen können? Die eine oder andere Nacht mal bei Freunden oder Bekannten übernachten. Ja – das ließ sich immer machen, das war kein Problem. Aber es war nichts von Dauer, nichts Beständiges und vor allen Dingen nichts Eigenes. Gregory war nur einmal verheiratet gewesen, hatte jedoch keine Kinder, und der Wunsch, welche zu haben, hielt sich in überschaubaren Grenzen. Kinder zu haben bedeutete immer, Verantwortung zu übernehmen. Er wollte frei sein. Ungebunden und ohne Verantwortung wollte er sein. War er das jetzt? Frei und ungebunden? Ungebunden schon, aber frei?
As time goes by
Mittlerweile waren ein paar Wochen vergangen und Gregory kannte jeden Stein im Garten mit Vornamen, las seinen Herrschaften (fast) jeden Wunsch von den Augen ab, hatte in Jan einen echten Verbündeten in Sachen Leidensdruck gewonnen und hatte nicht mehr Blessuren davongetragen als ein rangelndes Kind.
Das Wecken per Vibrationsalarm mit dem Handy funktionierte einwandfrei. Es musste bloß irgendwo liegen, wo die Vibration Erfolg hatte. Ein Teller und ein Besteckteil wären zwar optimal gewesen, aber ebenso gut hätte das Handy dann auch klingeln und jemanden auf den Plan rufen können, der dann wahrscheinlich sehr zornig geworden wäre. Da wäre aber nicht Gregorys Wunsch gewesen. Allein die Tatsache, dass sich ein Ingenieur so einen Vibrationsalarm ausgedacht hatte, war schon grandios. Auch darüber, dass das Ladeteil samt Handy unauffällig im Spiegelschrank verschwand und wohl darum noch nicht entdeckt worden war, freute sich Gregory wie ein König.
Er war mit der Situation zufrieden und hatte sich zu einem funktionierenden Rädchen dieses kleinen Universums entwickelt. So hätte es bleiben können, wären da nicht Tausende loser Fäden gewesen, wie sich Gregory ausdrückte, wenn etwas unerledigt blieb. Die leeren Stühle an der Tafel. Diese auffällig merkwürdige Schweigsamkeit der beiden, und der Garten, der nach Gregorys Ansicht irgendwas Seltsames an sich hatte. Eigentlich sah er schon überall Gespenster und witterte hinter allem und jedem eine Absonderlichkeit.
Irgendwann brachte Jan ein Boccia-Spiel mit. Es war zwischen Mittag- und Abendessen. In dieser Zeit war kaum etwas zu tun. Alles war erledigt und draußen war es angenehm mild.
Am nächsten Morgen
Gregory stand einige Augenblicke länger unter der Dusche als sonst. Auch die Wassertemperatur regelte er um einige Grad herunter. Er hatte miserabel geschlafen und musste wach werden. Die Vorkommnisse wühlten ihn innerlich stark auf und gönnten ihm noch nicht einmal nachts Ruhe. Er kämmte sich, zog sich an und marschierte zur Küche, wo er gespannt auf Jans Eintreffen wartete. Er glaubte Jans Auto gehört zu haben. „Lisbett“ war nicht mehr die Jüngste und gab oft recht eigentümliche Laute von sich. Man konnte sich danach richten.
Gregory öffnete die Nebentür, schaute um die Ecke und sah Jan über den Plattenweg zum Haus schlendern. Jan erweckte den Eindruck, als hätte er es nicht sonderlich eilig. Oder er ahnte, dass Gregory schon erwartungsvoll an der Türe stand, und steigerte die Spannung. Am liebsten hätte Gregory ihm zugerufen, dass man seine Schuhe beim Gehen besohlen könne, wenn er noch langsamer ginge, doch in dieser Gegend hielt Gregory morgendliche Zurufe für unpassend. Er war schließlich nicht Jans Vorgesetzter und außerdem befand man sich in einer Villengegend. Jan näherte sich und sein Grinsen erreichte beinahe beide Ohren.
„Erzähl’, was du rausgefunden hast“, sagte Gregory ungeduldig.
„Guten Morgen, lieber Jan, schön dich zu sehen, gut geschlafen? Oh ja – und selbst?!“ Jan schien einen anderen Empfang erwartet zu haben und tat dies entsprechend kund. Gregory hätte Jan wenigstens einen guten Morgen wünschen können.
Zukunftsmusik
18 Jahre zuvor.
Der damalige Student der Volkswirtschaft Moris Di Lauro lernte den Kommilitonen, genannt KayJay, in der Studentenvereinigung „Heller Tag“ kennen. KayJay, der eigentlich Klaus-Jürgen Fauler hieß, studierte Jura. Sie verstanden sich auf Anhieb gut und wurden dicke Freunde. Abgesehen von den üblichen Flausen beherbergte jeder eine klare Vorstellung seiner Zukunft im Kopf. Fauler wollte Jurist werden, verfügte jedoch nicht über den nötigen Schneid, sich mit einer eigenen Kanzlei niederzulassen oder sich in einer Sozietät abzustrampeln. Bequemer und sicherer erschien ihm daher eine Laufbahn als examinierter Jurist im Staatsdienst. Die dortigen Karriereleitern konnten sehr kurz sein, wenn der richtige Steigbügelhalter ein passendes Protegé gefunden hatte.
Ebenso rosig gestaltete sich Di Lauros Zukunftsperspektive. Banken und Versicherungen nahmen diplomierte Volkswirtschaftler mit Kusshand. Außer den üblichen Ritualen, welche die Studentenvereinigung forderte, gaben sich Klaus-Jürgen und Moris einen persönlichen Treueeid, der lebenslange Gültigkeit besitzen sollte. Diesem Treueeid folgend hatte jeder stets die aktuelle Telefonnummer des anderen.
Niemals rief einer der beiden den anderen an, um guten Tag zu sagen oder zu fragen, wie es geht. Die Erreichbarkeit des anderen war wie ein Reservefallschirm und wurde nur in absolut dringenden Angelegenheiten genutzt.
Sei kein Frosch – sei ein Maulwurf
Jan und Gregory schafften es, unbemerkt aus Gregorys Zimmer und über den Flur wieder zurück in die Küche zu schleichen. Jan ging zum Nebeneingang, öffnete die Tür und fixierte sie mit einem Keil. Gregory war mit dem Abräumen des Tisches und dem Entfernen einiger Krümel auf der frischen Tischdecke beschäftigt. Er reichte Jan wie gewohnt die Tellerstapel und das Besteck durch und schaute pausenlos auf die Uhr. Was los sei, wollte Jan wissen. Die Zeit verginge zu langsam, schnaufte Gregory. Dass sich daran nichts ändern ließ, musste ihm Jan nicht erklären. Erst gegen 13 Uhr verließ die Reinigungstruppe das Haus und erst dann könne man unten weiterarbeiten, meinte Gregory.
„Aber heute ist Waschtag“, wandte Jan ein. „Vielleicht dauert das …“
„Du bist jetzt schon so lange da. War an irgendeinem dieser Waschtage mal etwas Außergewöhnliches?“, wollte Gregory wissen.
„Nee. Immer alles dasselbe. Mittwochs kommt der Lieferant und donnerstags ist Waschtag. Alle kamen bisher wie immer und alle gingen bisher wie immer.“ Jan ging durch die geöffnete Türe in den Garten. „Ein herrliches Wetterchen. Wir sollten mal wieder eine Runde Boccia spielen, damit du auch mal gewinnst“, stichelte. Gregory ließ sich nicht provozieren, sondern ging ebenfalls in den Garten.
Jan schaute in Richtung Straße. Direkt zur Straße konnte man wegen der hohen Hecken nicht gucken. Jan glaubte, durch die Büsche etwas zu sehen, das er dort noch nie gesehen hatte, und ging schnurgerade darauf zu, um sich zu vergewissern. Er drückte die Hecken einige Zentimeter auseinander, um sich einen besseren Blick zu verschaffen. Dann erkannte er, was ihn so irritierte, weil er es dort noch nie gesehen hatte.
Die Tafelrunde
6 Jahre zuvor.
Das Handy klingelte. Der Kreis der für einen Anruf infrage kommenden Personen war überschaubar. Die Nummer des anderen Teilnehmers war nicht bekannt. Sollte es sich um den von Fauler angekündigten Anruf handeln? Vorsicht war jedenfalls für die Di Lauros das Gebot jeder Sekunde.
„Hallo!?“ Di Lauro meldet sich zwar in festem Ton, aber nicht mit Namen.
„Hallo“, sagte auch die männlich klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich habe Ihre Nummer von einem alten Studienfreund bekommen und soll Sie anrufen.“
„Prima“, meinte Di Lauro erleichtert, wechselte aber seine Tonart nicht. „Wir sollten uns treffen.“
„Genau. Treffen wir uns beim Griechen. Passt Ihnen 18 Uhr?“
„Wann?“
„Heute! Oder ist heute schlecht?“
„Nein nein, alles okay“, meinte Di Lauro. „Heute um 18 Uhr beim Griechen geht in Ordnung.“ Di Lauro beendete das Gespräch. Der Grieche scheint so eine Art Drehscheibe zu sein, dachte er.
Die alltägliche Routine
Der Ablauf war für alle Beteiligten jedes Mal derselbe. Di Lauro traf um 18 Uhr beim Griechen ein und der Grieche übergab ihm eine Metalldose in der Größe einer zusammengerollten Zeitung.
In dieser röhrenförmigen Dose befand sich eine Hefeteigrolle, die ein flexibles Heizgitter enthielt. In den Teig selbst waren Namen und Anschrift der zu liquidierenden Person eingeritzt. Diese Daten waren bei geöffneter Dose lediglich für eine Minute sichtbar. Versuchte man diese Dose gewaltsam zu öffnen, aktivierte ein Mechanismus über das Heizgitter umgehend eine gewaltige Hitze und ließ somit den Teig aufgehen. Die eingeritzten Daten wären für immer unlesbar gemacht worden. Der Grieche aktivierte die Dose bei der Übergabe und erst nach Ablauf von 30 Minuten öffnete sich der Schließmechanismus, der einen Zugriff zuließ. Nach einer Minute ging das Heizgitter an und die Daten verschwanden.
Di Lauro nahm fast jede Woche eine solche Dose in Empfang. Er erschien jeden Tag um 18 Uhr beim Griechen und bestellte einen Espresso. Servierte die Bedienung jedoch einen Metaxa, war es das Zeichen für ihn, dass eine Dose übergeben werden sollte. Servierte man Espresso, fuhr Di Lauro mit einem Taxi wieder nach Hause. Stand ein Metaxa auf seinem Tisch, übernahm er zuerst die Dose und fuhr anschließend mit einem Taxi nach Hause. Dort öffnete er die Dose, nachdem der Mechanismus grünes Licht signalisierte, las die Daten, prägte sie sich ein und flüsterte sie zur Sicherheit Claudia ins Ohr. Nie wurde etwas dokumentiert und es wurde nicht mehr gesprochen. Nur so ließen sich die Daten fehlerfrei auswendig behalten und jeder Beweis verhindern.
Am Tag, als der Regen kam
Draußen regnete es schon seit Stunden sehr heftig. Irgendwo standen sicher wieder etliche Keller unter Wasser und in den Nachrichten wurde bestimmt darüber berichtet. Es war gut, informiert zu sein. Es vermittelte das Gefühl, dazuzugehören, anstatt danebenzustehen. Für den einen bedeutete Regen etwas Sintflutartiges und woanders vollführte man vor Freude einen Regentanz. Ausgedörrte Landstriche, in denen ein Wassertropfen schon in der Luft verdunstete, gehörten scheinbar ebenso in die News wie die, deren Häuser nur noch mit Gummistiefeln zu betreten waren.
Und genauso ein Tag schien sich zu anzukündigen. Wahrscheinlich war es in den Regenwäldern des Amazonas ähnlich, und Gregory stellte sich oftmals vor, wie es wohl gewesen wäre, wenn er nicht nach London, sondern nach Südamerika zu den Yanomami gegangen wäre. Pflanzen benötigen Wasser, das ist bekannt, und der Garten war voll mit Pflanzen. Der Gärtner hatte wunderschöne Beete mit allen möglichen Gewächsen angelegt. Der Lehmboden saugte den Regen auf wie ein trockener Badeschwamm. Nicht alle Pflanzen mögen viel Feuchtigkeit, auch das ist bekannt, aber in der Natur kann sich nicht jedes Lebewesen aussuchen, welches Wetter es geben darf und welches nicht.
Gregory stand zwar in der Küche, hatte jedoch die Tür des Nebeneingangs weit geöffnet. Die Luft duftete frisch, als ob der Regen sie gewaschen hätte. Eine ganz besondere Art von Licht erfüllte die Welt da draußen, und dem Gesang der gefiederten Schar nach zu urteilen fühlten die sich offensichtlich pudelwohl. Eine seltsame Zufriedenheit machte sich breit und trotz des strömenden Regens sank die Außentemperatur kaum. Gregory lehnte mit verschränkten Armen in der geöffneten Tür und schaute hinaus.
Ihr 35. Geburtstag
Freitag, früher Abend.
Jan traf kurz vor 18 Uhr wieder ein. Gregory öffnete ihm und wollte direkt wissen, ob Jan schon irgendetwas sagen konnte.
„Ich habe meinem Bekannten die Lümmeltüte inklusive Inhalt übergeben und gesagt, dass es wichtig und vor allem dringend ist.“
„Und was hat er gesagt?“
„Was sollte er sagen? Er hat den Pariser schräg angeglotzt und legt sofort mit seiner Arbeit los. Wird aber den einen und anderen Tag dauern, Jetzt sei erst mal Wochenende, meinte er und Rom sei auch nicht …“
„An einem Tag gebaut worden … bla bla … ich glaube, den Spruch hat jeder drauf“, schimpfte Gregory.
„Ich kann’s nicht ändern“, zuckte Jan die Achseln. „Mich muss du deswegen nicht anmaulen, Kollege.“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Gregory. „Mein Nervenkostüm ist momentan sehr dünn!“
„Kopf hoch“, meinte Jan und klopfte Gregory auf die Schulter. „Wir schaffen das schon, keine Bange. Ich bin Holländer, schon vergessen? Wir haben schon größere Schlachten gewonnen. Und jetzt gehst du schön den Tisch decken und ich werde was Tolles zum Abendessen zaubern.“
Gregory ging wie ein folgsames Kind ins Esszimmer und erledigte seinen Job. Jan tat dasselbe in der Küche und forderte Gregory auf, die Glasscheibe der Durchreiche zu öffnen, damit er ihn hören konnte.
„Jetzt am Wochenende ist hier im Haus der Teufel los“, sagte Jan. „Da feiert sie ihren Fünfunddreißigsten.“
Maskenball
Wenige Tage nach der Geburtstagsparty.
„Mein Bekannter hat mir die Datenauswertung des Labors gegeben und da heißt es:
‚Bei dem hier vorliegenden Artefakt handelt es sich um das erste Glied des linken Ringfingers einer männlichen Person, deren Lebensalter auf 40 bis 50 Jahre taxiert wird. Da das Stadium der Verwesung vollständig abgeschlossen ist, liegt der Tod mindestens vier Jahre zurück. Durch eine bisher unerklärbare Teilmumifizierung war eine Rekonstruktion der Fingerabdrücke möglich, welche eine Identifikation zuließ.‘“
„Ist also schon mal mit den Behörden in Berührung gekommen, der Tote.“
„Und dann stehen hier noch etliche andere Daten, die sich bei diesen Labortests ergeben. Ich denke, die muss ich nicht alle vorlesen.“
„Weiß man schon, um wen es sich handelt?“
„Anderes Blatt, andere Abteilung, schätze ich, alles muss seine Ordnung haben.“ Jan sortierte die Zettelage und murmelt dabei. „Aha, da steht’s ja:
‚Die Fingerabdrücke sind Herrn Karl-Heinz ‚Charly’ Fauler zuzuordnen, letzte Meldeadresse ist Neustrelitz, In den Junkerswiesen 64, selbstständig, Betreiber eines Saunaclubs.‘“
„Wo liegt denn Neustrelitz?“ Gregory kannte den Ort offensichtlich nicht.
„Wenn man mich fragt“, meinte Jan, „liegt das alles ziemlich nördlich, so zwischen der Hauptstadt und der Ostsee. Neubrandenburg, Neustrelitz, alles Neue eben.“ Jan las wieder murmelnd in den Auswertungen, hob plötzlich seinen Zeigefinger und staunte…
Impressum
Eiskalt abserviert (1. Auflage 2014)
Autor: Lutz Spilker
Lektorat: Iris Bachmeier
Covergestaltung/Bild: Jasmin Waisbird / © bigstockphoto.com
Roman Verlag © 2014
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