Kauzig war immer das richtige Wort, wenn es darum ging, Onkel Alfred zu beschreiben und genau genommen war er gar nicht Fabians Onkel, sondern sein Großonkel. Schrullig wäre auch noch ein passender Ausdruck gewesen, der ihn charakterisiert hätte. Seine Stimme klang knarzig und jeder war stets froh darüber, dass er allgemein sehr wenig sagte.
Er wurde Fabians Patenonkel und schenkte ihm eine aufklappbare Taschenuhr mit feinsten Gravuren auf der Oberseite. Alle Anwesenden bewunderten diese Uhr und tuschelten hinter vorgehaltener Hand, dass diese Uhr das unpassendste Geschenk überhaupt darstellen würde.
Was sollte so ein kleiner Kerl, wie es Fabian nun mal war, mit einer solchen Uhr eigentlich anfangen? Onkel Alfred stammte aus einem Jahrhundert, das es praktisch nie gab und von dort schien er den Zeitmesser mitgebracht zu haben.
Später legte Fabians Mutter die Taschenuhr in eine Schublade. Dort lag sie auf einem Stapel von aus der Mode geratener Kleidungsstücke, die niemand mehr trug, man sich aber dennoch nicht von ihnen trennen konnte.
Der zugeklappte Zustand der Uhr schützte zwar das Zifferblatt, doch gleichzeitig versperrte der silberfarbene Deckel auch den Blick auf die Zeiger. Keinem fiel somit auf, dass die Uhr niemals aufgezogen werden musste und sich die Zeiger trotzdem schienen, und zwar rückwärts.
Bereits nach wenigen Tagen war die Uhr vergessen. Niemand sprach mehr darüber und selbst Onkel Alfred erkundigte sich nie mehr danach. Eigentlich bestand zu ihm kein enger Kontakt und somit fiel sein Verhalten nicht sonderlich auf.
Fabian, der eigentlich Beschenkte, vermisste die Uhr generell nicht, zumal sie ihm nie gezeigt wurde. Die Person ›Onkel Alfred‹ war für ihn nur ein Begriff, der in Gesprächen Erwähnung fand. Über die Tatsache, dass er sein Patenonkel war und ihn womöglich mit einem Präsent bedacht hatte, verschwendete er nicht einen einzigen Gedanken.
Als Fabian das 18. Lebensjahr erreichte, lernte er ein junges Mädchen namens Melanie kennen. Kaum ein halbes Jahr später beschlossen sie zu heiraten. Auch entschied er sich von zu Hause auszuziehen und eine eigene Familie zu gründen. Dutzende Ecken und Winkel wurden nach irgendwelchen Dingen durchsucht, die er sein Eigen nannte. Nichts wollte er versehentlich vergessen, um später nichts zu vermissen.
Und dann zog Fabians Mutter wieder die Schublade auf, in die sie seinerzeit diese sonderbare Uhr deponiert hatte. Wohlbehalten und scheinbar unverändert lag sie da. Der geschlossene Deckel gewährte auch dieses Mal wieder keinen Blick auf das Zifferblatt.
Arglos nahm sie die Taschenuhr in die Hand, erinnerte sich träumerisch an den Moment der Taufe zurück und steckte sie anschließend in eine der vielen Kisten, die Fabians Habseligkeiten beinhalteten. Damit er sich beim Auspacken nicht darüber wundern sollte, nahm sie sich vor, ihn darüber zu informieren. Doch im Trubel des Umzugs vergaß sie es.
Als Jungvermählte bezogen Fabian und seine hübsche Frau die neue Wohnung und richteten sie nach ihrem Geschmack ein.
Beim Auspacken der Umzugskartons stieß Melanie dann beiläufig auf die Taschenuhr. Eine ähnliche Uhr sah sie schon einmal bei ihrem Großvater. Er besaß auch einen solch aufklappbaren Zeitmesser. Bedenkenlos griff sie nach der Uhr, hielt sie an ihr Ohr, doch vernahm kein Geräusch. Ihrer Ansicht nach war die Uhr einfach stehengeblieben. Um sie korrekt einzustellen, drehte sie an der oberen Krone und um einen Zeitvergleich vorzunehmen, klappte sie den Deckel auf.
Während sie die Einstellung änderte, müssten sich die Zeiger bewegen, doch das war nicht der Fall. Die Zeiger ließen sich überhaupt nicht bewegen. Ihrer Ansicht nach wies aber nicht das Geringste auf einen Schaden hin. Nichts war sichtbar beschädigt oder wollte gewaltsam bewegt werden. Nichts gab ein merkwürdiges Geräusch von sich und nichts erschien gelockert oder ausgeleiert.
Mit Fabian darüber zu sprechen wollte sie nicht und so wichtig schien ihr die Angelegenheit auch nicht zu sein. Er vermittelte jedenfalls den Eindruck, diese Uhr ohnehin nicht einen Augenblick zu vermissen … ja, er ließ sogar vermuten, diese Taschenuhr noch nicht einmal zu kennen. Vielleicht handelte es sich bei dieser Uhr ein altes Familienerbstück und dieser Zustand sollte beibehalten werden … vielleicht erinnerte die Zeigerstellung auch an irgendeinen ganz bestimmten Moment.
Je mehr Melanie darüber nachdachte, desto stärker war sie von dieser Überlegung angetan. Und dass Fabian die Uhr überhaupt nicht zu kennen schien, lag wahrscheinlich daran, dass seine Mutter sie einfach zwischen seine Sachen steckte.
Also wurde diese sonderbare Taschenuhr ab sofort für ein wichtiges Erbstück gehalten und an einem besonderen Platz aufbewahrt. Es musste ein Ort sein, den er nie nutzte. Keinesfalls sollte ihm die Uhr unbeabsichtigt begegnen, bevor er nicht darüber informiert worden war. Möglicherweise wäre dann eine Riesenüberraschung ruiniert.
Und somit bugsierte sie Fabians Frau auch wieder in eine Schublade, in der sich ebenfalls alte Kleidungsstücke sammeln sollten.
Nach einigen Wochen hatte sie dort wieder etwas abzulegen und stieß zufällig auf die Uhr. Aus reiner Neugierde klappte sie den Deckel auf und schaute automatisch auf die Zeiger.
Sie standen anders.
Möglicherweise hatte sie sich die vorherige Position nicht eingeprägt, wozu auch keinerlei Veranlassung bestand.
Nun war sie verwirrt.
Sie warf einen starren Blick auf das Zifferblatt und prägte sich die Zeigerstellung genau ein. Dann klappte sie den Deckel der Taschenuhr vorsichtig zu, legte sie auf einen alten Wollschal und schob die Lade behutsam und kaum hörbar zu.
Sie atmete sehr bedächtig, als würde ein starker Hauch etwas verändern können.
Als sie die Schublade mit der zuvor darinnen abgelegten Uhr zuschob, überkam sie die unbändige Begierde wissen zu wollen, ob sich nun an der Stellung der Zeiger etwas geändert hatte. Langsam, jedoch entschlossen, zog sie die Lade wieder auf, nahm die Uhr und drückte gekonnt auf den kleinen Hebel, der den Deckel aufspringen ließ.
Potzblitz!
Der große Zeiger stand schon wieder anders als vorher. Es waren vier Minuten vergangen. Aber die Zeitanzeige auf der Uhr passierte offensichtlich rückwärts. Wie konnte das sein? Befand sich die Uhr vielleicht doch nicht in einem einwandfreien Zustand oder hatte sich Melanie bloß wieder geirrt? Jetzt schnappte sie sich die Uhr, schüttelte und rüttelte sie nach allen Kräften, doch nichts bewegte sich. Sie hielt sie an ihr Ohr und auch dort hört sie nichts.
Kein Ticken.
Kein Geräusch.
Nichts.
Eigentlich hätte sich keiner der Zeiger bewegen dürfen, weil die Uhr stillstand. Was hätte den Zeitmesser bewegen können? Niemand – außer ihr – hatte die Uhr berührt. Was hätte die Anzeige also verändern können und warum bewegte sich die in die entgegengesetzte Richtung? All das wollte sie nicht verstehen!
Eine Uhr, deren Werk gar nicht einsatzbereit war und deren Zeiger sich dennoch zu bewegen schienen … eine Geisteruhr …
Sie musste das Vorgehen über einen längeren Zeitraum beobachten und durfte Fabian kein Sterbenswörtchen davon erzählen. Allenfalls hätte er sie für verrückt gehalten.
Zunächst prägte sie sich die exakte Position der Zeiger beziehungsweise die Uhrzeit haargenau ein, klappte den Deckel wieder zu und schloss die Schublade. Danach schnaufte sie, als hätte sie ein Dutzend Mehlsäcke in den Keller schleppen müssen.
Nichts sollte man ihr anmerken. Alles musste so sein wie immer.
Doch wie war das?
Plötzlich stand sie innerlich vor ihrem eigenen Spiegelbild und begann sich zu beobachten. Sie wusste gar nicht, wie sie ging, wie sie sich setzte oder wie sie sich überhaupt bewegt. Wie nahm sie Fabian in den Arm, wenn er von der Arbeit nach Hause kam? Er würde sofort merken, wenn sie anders wäre. Aber wie müsste sie sich verhalten, wenn sie sich normal gäbe? Sie fürchtete sich vor sich selbst und sie flüchtete vor sich selbst. Sie war viel zu nervös und auf die Situation konzentriert.
Ihr blieb keine andere Möglichkeit, als sich des Einerleis zu entziehen. Sie legte sich auf die Wohnzimmercouch, zog sich eine Wolldecke bis unters Kinn und spielte die stark Erkältete. Damit war sie aus der Klemme. Erschrocken sprang sie wieder auf, rannte ins Badezimmer, versorgte sich mit Tropfen, Tabletten nebst des Fieberthermometers und verteilte die Sachen möglichst unordentlich auf dem Tisch. Jetzt konnte Fabian kommen … jetzt war alles perfekt.
Da. Sein Schlüssel fuhr ins Schloss. Um diese Zeit kam er immer heim. Und wo war Melanie? Warum kam sie ihm nicht entgegen, um ihn zu begrüßen? Er schaute sich um und sah sie im Wohnzimmer auf dem Sofa liegen. Sie machte einen kränklichen Eindruck. Dann fielen ihm all die Mittel auf, die kreuz und quer auf dem Tisch lagen. Damit waren sämtliche Zweifel beseitigt und sein besorgtes Gesicht sagte deutlich: ›sie ist krank‹. Melanie grinste innerlich. Ihre Scharade hatte funktioniert.
Aber was hatte es mit der Uhr auf sich? Das herauszufinden war ihr vorderstes Anliegen. Jeden Tag, an dem Fabian die Wohnung verließ, besaß sie ausreichend Zeit, sich mit der Angelegenheit zu befassen. Sie musste die Uhr lediglich beobachten, um den Beweis dafür zu erbringen, dass sich die Zeiger im selben Tempo bewegten, wie auch die Zeit verging.
In den nächsten Tagen eilte sie jedesmal, nachdem er die Wohnung verlassen und die Türe hinter sich geschlossen hatte, ins Schlafzimmer und zog die unterste Schublade der Kommode auf. Unverändert lag die Taschenuhr da. Nichts anderes hatte sie erwartet. Sie nahm sie in die Hand, klappte den Deckel auf und sah auf das Zifferblatt. Wieder war dort eine andere Position erkennbar und wieder hatten sich die Zeiger bewegt, dennoch es gar nicht sein konnte.
Die angezeigte Zeit stimmte allerdings nicht mit der auf ihrer eigenen Uhr überein. Demzufolge orientierte sich die Taschenuhr nach einem anderen Gefüge … und dass sie in der Lage war, sich völlig ohne jeden erkennbaren Antrieb zu bewegen, verwirrte Melanie ganz und gar.
Nun schaute sie mehrmals täglich nach der Uhr und immer wieder war sie über die stets andere Position der Zeiger erstaunt. Krank war sie bereits am Folgetag ihrer Schauspielerei schon nicht mehr. Möglicherweise hätte sie sich diese Aufführung sogar sparen können. Vielleicht machte sie sich um einiges mehr Gedanken, als es nötig wäre.
Eine ganze Woche beobachtete sie das Geschehen und erzählte niemandem davon. Jeder hätte sie umgehend für verrückt gehalten.
Das normale Leben hatte wieder Einzug gehalten und die Uhr rückte mehr und mehr in Vergessenheit. Melanie nahm ihren Fabian wie jeden Tag in Empfang und drückte ihn an sich.
Und dann kam der Tag, an dem sie auf ihn länger wartete als sonst. Unruhig lief sie in der Wohnung von einem Zimmer ins nächste und schaute erwartungsvoll aus dem Fenster. Dann schaute sie auf ihre Uhr und dabei fiel ihr die Taschenuhr in der untersten Schublade der Kommode wieder ein. Dort trieb es sie hin. Hastig zerrte sie die Schublade auf, erblickte die Taschenuhr, griff danach und öffnete umgehend den Deckel. Die Zeiger ließen exakt 16:28 h erkennen.
Plötzlich klingelte das Telefon.
Eine unbekannte Person, die sich als Polizeibeamter ausgab, teilte in tröstenden und teilnahmsvollen Worten mit, dass sich um genau 16:28 h ein schwerer Verkehrsunfall ereignet hatte, bei dem ein Mann ums Leben gekommen war. Mit offizieller klingender Stimme sagte er noch: »… dass es sich, den Angaben in den Papieren nach, um Ihren Mann handeln muss … Fabian …« Sie brach in Tränen zusammen und wollte den Rest nicht mehr hören.
Immer wieder warf sie einen Blick auf die Uhr in der Schublade, doch seither bewegten sich die Zeiger nicht mehr.
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