Manchmal fühlte er sich vom Schicksal benachteiligt. Alle seine Arbeitskollegen und selbst seine ehemaligen Klassenkameraden waren schon seit vielen Jahren verheiratet und hatten Frau und Kinder.
Er nicht.
Er war noch nicht einmal verliebt, geschweige verlobt. Seine Welt bestand in erster Linie aus sich selbst, seinem Beruf und dem kleinen Appartement, das sein Zuhause war. Dort konnte er sich vor der Welt verkriechen, die im ständig ein Bein stellte und von der er unentwegt vernachlässigt wurde.
Seiner Ansicht nach passierte das bereits in seiner Kindheit. Damals, als seine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, sich keiner aus der Verwandtschaft bereit erklärte ihn großzuziehen und sich ordentlich um ihn zu kümmern und er die ganzen Jahre bis zum Erreichen der Volljährigkeit in einem Waisenhaus verbringen musste, schien sich das Wohl seines Lebens und das Glück der Welt gegen ihn verschworen zu haben. Seinerzeit gab das Waisenhaus jeden Takt in seinem Dasein vor. Da verbrachte er fast jede Minute und war selbst an seinen Geburtstagen und sogar an den Weihnachtsfesten dort anzutreffen. Er kannte nichts anderes, doch er sehnte den Tag seiner Entlassung herbei und der rückte immer näher.
Wie oft träumte er schon von einer eigenen Familie und sah sich als stolzer Vater im Kreise seiner Kinder. Aber auch das wurde nie Wirklichkeit. Er hatte kein Glück bei der Weiblichkeit. Als sei er durchsichtig, nahmen ihn die Frauen nicht wahr. Für ihn war das alles nichts Neues – er war es nicht anders gewohnt. Er suchte sich ein kleines, nettes Zimmer, richtete es mit dem Nötigsten ein und bewohnt es seither. Schnell fand er eine Arbeit, denn er war fleißig. Er verdiente gerade so viel, wie er zum Leben benötigte und sparte sich nebenher einige Kreuzer als Notgroschen zusammen.
Pünktlich war er und verlässlich. Sein Chef war darum mächtig stolz auf ihn, denn er durfte schon sehr früh recht umfangreiche Aufträge völlig allein durchführen. Auch die Arbeiten, die direkt beim Kunden gemacht werden mussten, erledigte er höchst zufriedenstellend und selbstständig.
Irgendwann kaufte er sich von seinem Ersparten ein eigenes Auto und fuhr damit jeden Tag zur Arbeit. Vorher musste er sehr früh aufstehen, denn er ging noch immer zu Fuß. Später trat er in die Pedalen eines alten Fahrrads, das er aus etlichen Ersatzteilen selbst zusammengebaut hatte und dann war es irgendwann soweit. Er chauffierte sich selbst zur Arbeit und fühlte sich wie ein Fürst.
Jeden Morgen, wenn er diesen Weg antrat und die Gemütlichkeit seines Feierabends immer mehr von ihm wich, stülpte sich dieses ihm schon gewohnte Kleid des Pflichtbewusstseins wie von selbst über. Dann ging er zu seinem Wagen, stieg ein und machte sich auf den Weg. Diese Strecke war ihm bekannt. Er benutzte sie jeden Tag und fast immer zur selben Uhrzeit. Es war vielleicht nicht der schnellste, aber der angenehmste Weg. Der allgemeine Verkehr war auf dieser Straße so gut wie kaum spürbar. Keine Raserei und keine Hektik.
Doch da. Blaulicht, Warndreiecke und ein Krankenwagen. Ein schwerer Verkehrsunfall machte ihn neugierig. Genau dort wurde der Verkehr einspurig und dort musste er vorbeifahren.
Diese ungewohnte Situation riss ihn aus der morgendlichen Gelassenheit und machte ihn noch wacher. Langsam näherte er sich dem Unfallort. Schwingende Arme in Uniform ermunterten ihn zur Weiterfahrt. Beinahe musste er jedoch anhalten, zumal der Vordermann auf die Bremse trat.
Scheinbar wie von selbst öffnete sich die hintere Türe seines Wagens und schloss sich nach wenigen Augenblicken ebenso wie von selbst. Erschrocken schaute er sich um, doch sah niemanden. Das Polster des Sitzes auf der Rückbank des Wagens drückte sich ein, als würde sich dort jemand hinsetzen. Aber es war niemand da. Nun griff er dorthin, aber er fühlte nichts. Er war nach wie vor allein. Und dann hörte er die anderen Autos hupen und der Uniformierte klopfte an die Scheibe und mahnte zur zügigen Weiterfahrt.
Diese Begebenheit beschäftigte ihn den ganzen Tag. Forderte der Verkehrsunfall am Morgen eine tote Person? Bildete er sich das alles bloß ein? Spielte ihm die Fantasie einen Streich? Er war an diesem Tag sehr unkonzentriert. Glücklicherweise kam es bei der Arbeit zu keinem Schaden, aber dennoch freute er sich wie nie zuvor auf seine eigenen vier Wände. Mit einem entladenden Schnaufer setzte er sich in seinen Wagen und achtete gar nicht mehr auf den Sitzabdruck auf der Rückbank.
Der Rest des Tages verlief wie immer und schon bald kehrte wieder der gewohnte Trott ein. Abendessen, Fernsehen und nach einem Schlummertrunk suchte er wie jeden Abend sein Bett auf. Dort legte er sich hinein, kuschelte sich an seine weiche Decke und war sehr zufrieden.
Doch was war das? Doch was war das? Am Rande des Bettes gleich neben ihm drückte sich die Matratze genau so herunter, als würde sich jemand dort hingelegt haben.
Vor Schreck fuhr er zusammen, richtete sich schlagartig auf, drückte sich mit dem Rücken ans Kopfende des Bettes, zog seine Beine bis unters Kinn und blinzelte mit einem Auge durch das Halbdunkel an die Position des Bettes, die ihn sofort an den Sitzabdruck im Polster auf der Rückbank seines Wagens erinnerte.
War das alles bloß wieder ein Traum? Voller Furcht griff er an diese Stelle und fühlte nichts. Da war also auch nichts. Noch nicht einmal eine Änderung der Temperatur. Woher kamen dann aber diese Druckstellen? Er schaltete das Licht ein, ging ein Glas Wasser trinken, legte sich mit gemischten Gefühlen wieder ins Bett und starrte mit weit geöffneten Augen an die Zimmerdecke. Wohl war ihm nicht, doch die Müdigkeit siegte und schon bald schlief er ein.
Plötzlich wachte er wieder auf und konnte sich nicht mehr bewegen. Er war an Armen und Beinen festgeschnallt. Stramm saßen die Gurte an seinen Gliedmaßen und ließen keinerlei Bewegung zu. Er lag auf einer einfachen Liege. Seinen Körper konnte er nicht bewegen, bloß seinen Kopf. Er schrie sofort nach Hilfe, doch niemand erschien.
Er war der einzige im Raum und selbst dem Hall seiner Stimme nach, konnte er die Größe des Raumes nicht bestimmen. Gleißend helles Licht fiel in seine Augen und ließen ihn die Umgebung nur schemenhaft erkennen. Wo war er? Er wusste es nicht.
Er spürte einen schlagenden Schmerz im ganzen Körper. Immer wieder. Jedesmal zuckte er zusammen, doch die Unerträglichkeit der Pein war fast permanent zugegen. Kaum ließ die gerade verspürte Qual nach, wurde sie umgehend von einer nächsten ersetzt. Strom jagte durch seinen Körper und verursachte schier verheerende Martern.
Mit jedem Schlag seines Herzens verursachte er einen Stromstoß, dessen Intensität stets die gleiche war. Es machte ihn wahnsinnig. Er schrie. Windend vor Schmerzen kämpfte er dagegen an – doch es war zwecklos. Je mehr er sich erregte, desto schneller pochte sein Herz. Mit jedem Schlag seines Herzens durchzuckte ihn ein gewaltiger Elektroschock.
Er musste sich beruhigen, um seinen Puls zu senken. Nur dadurch würde sich sein Leid reduzieren. Sein ganzer Körper trat einen offenbar aussichtslosen Kampf an, doch er musste es wenigstens versuchen. Sich möglicherweise von den Fesseln befreien zu können, würde eine riesengroße Menge an Kraft erfordern, doch die brauchte er, um den immer wiederkehrenden Stromschlägen zu widerstehen. Kaum war der Gedanke geboren, warf er ihn gleich über Bord.
Jetzt wurde es ihm klar. Beides passierte synchron. Jedes Mal, wenn sein Herz schlug, initiierte es einen elektrischen Schlag, der ihn fast umbrachte. Schlug sein Herz schnell, erfolgten die Stromschläge ebenso und schlug sein Herz langsam, so trafen ihn die inneren Blitze genauso schleppend.
Offensichtlich hielt sein Herz den Stromfluss aufrecht und jeder Schlag war der Impuls für einen weiteren Stromschlag, den er ertragen musste. Somit wusste er, dass er sich den Stromstößen nur entziehen konnte, indem er sein eigenes Herz für lediglich fünf Sekunden aussetzen lassen würde. Danach könnte es bedenkenlos weiterschlagen und sein Leben wäre gerettet. Allerdings gab es für diese Überlegung keine Garantie. Es wäre reines Glück und das konnte er nicht beeinflussen.
Die Aktivität des Stroms konnte er demnach nur mit der Funktion seines Herzens abstellen. Das eine hielt ihn am Leben und das andere würde ihn bald umbringen, denn es war ohnehin schon eine Folter. Wenn sein Herz nicht mehr schlagen würde, hörten die Stromschläge automatisch auf. Dann wäre er zwar für die Dauer eines Augenblicks tot, aber die Qualen könnten ihn nicht mehr erreichen. Er müsste sie nicht mehr ertragen. Er würde sie nicht mehr spüren. Nur das wäre seine Erlösung, denn noch länger könnte er dieser Marter nicht widerstehen. Ihm musste eine Lösung einfallen, und zwar sehr schnell.
Doch – wo war er überhaupt und wie kam er dahin? Wurde er betäubt und dann dorthin verschleppt? Waren der Verkehrsunfall am Morgen und die merkwürdigen Ereignisse danach etwa für all das verantwortlich und warum wurde er dermaßen gequält? Wem war daran gelegen, ihn derart zu misshandeln? Hatte er etwas angestellt, für das er nun büßen sollte? Sich seiner eigenen Ohnmacht bewusst zu werden und sich der Laune einer unbekannten Macht unterwerfen zu müssen, förderte genau die Art von Aggressivität in ihm hervor, die ihn gleich darauf wieder schindete.
Um seinen Herzschlag zu verringern, verlangsamte er unter Höllenqualen seine Atmung. Dadurch erhoffte er sich eine spürbare Erleichterung.
Es gelang ihm. Er beruhigte sich. Sein Herzschlag reduzierte sich und gleichsam wurden auch die kaum zu ertragenden Stromschläge weniger.
Abrupt wachte er auf. Immer noch saß er mit angewinkelten Knien und dem Rücken ans Kopfende seines Bettes gepresst im Bett und starrte auf die Position mit der eingedrückten Stelle gleich neben sich. Sie war nicht mehr da.
Schweißgebadet und mit weit aufgerissenen Augen legte er sich ganz langsam wieder hin. Innerlich schaute er sich um, hörte in alle Richtungen und schnupperte. Nichts. Er war allein. Die Mulde neben ihm war tatsächlich verschwunden.
Mit beiden Händen fasste er sich an die Brust und fühlte das deutliche Schlagen seines Herzens. Er war völlig verwirrt und hielt noch einige Momente inne. Dann schlief er erschöpft ein.
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