Irgendwann hörte er auf zu zählen und ritzte weder für Tage noch für Wochen Striche in die Wand. Auch zählte er die Jahre nicht mehr, die er bereits in seiner Zelle verbrachte beziehungsweise die, die er noch zu verbüßen hatte.
Irgendwann würde er sterben und hätte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ein Zehntel seiner Strafe abgesessen. Ein Massenmörder wäre er und so wurde er auch behandelt. Siebenhundert und zweiundachtzig Mal lebenslänglich lautete das Urteil, das ihn erstarren ließ, als es der Richter verlas. Er rechnete nicht mit Milde und genutzt hätte sie ihm ohnehin nichts. Er kannte schließlich selbst keine Gnade und jetzt darauf zu hoffen wäre sehr hochmütig gewesen.
Und dann wurde er abgeführt. Davon bekam er kaum noch etwas mit. Plötzlich ging ihm alles noch einmal durch den Kopf. Die Bombe, die er zündete, tötete mehr als achttausend Menschen. Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge. Unschuldige waren auf jeden Fall dabei. Genaugenommen waren alle unschuldig. Sie waren da und boten sich als Mittel zum Zweck an. Mehr nicht.
Anfangs war er noch stolz auf sich und ließ sich bewundern. Doch mit jedem Wimpernschlag bröckelte dieser Stolz von ihm ab. Was übrig blieb war ein Häufchen um Entgegenkommen winselndes Stück Elend. Schäbig fühlte er sich und letztendlich haftete die Schuld lediglich an ihm.
Sein Gehirn war taub und seine Beine funktionierten nur noch mechanisch, als ihn die beiden Wärter in seine Zelle brachten. Es hätte Tag oder Nacht sein können, ihm wäre es nicht bewusst geworden. Sie hätten ihn einfach dort abstellen und gehen können. Er hätte sich nicht bewegt und keinen einzigen Augenblick an Flucht gedacht. Aber sie setzten ihn auf einen Stuhl, schlossen die stabile Türe hinter sich zu und gingen den langen Flur zurück in ihr Büro.
Ihre Schritte waren deutlich zu hören. Für alle Ohren gaben sie den Standort und ihre Bewegung an. Im Laufe der Jahre entwickelte jeder der dort Inhaftierten ein feines Gehör und wusste zu jeder Zeit, um den jeweiligen Verbleib der Wachen. Mit dem Schließgeräusch ihrer Bürotüre fand das mehrfach täglich stattfindende Hörspiel sein Ende.
Für viele Zelleninsassen bedeutete es immer wieder eine gelungene Abwechselung. Nicht ein Wort wurde gesprochen. Alles passierte tagsüber oder in der Nacht, bei Routinegängen über den Flur oder Kontrollen der Hafträume. Allein die Andeutung irgendwelcher Gesten ersetzte die Sprache. Es schien oftmals, als unterhielten sich dort sämtliche anwesenden Personen per Zeichensprache. Auf diese Weise entstanden kuriose Spekulationen, Gerüchte oder sonstiges Gerede.
Er saß bloß da. Einzelhaft. Die letzte Zelle auf diesem Korridor war seine. Auf der einen Seite standen ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl und auf der anderen Seite gesellten sich das Waschbecken und eine Toilette dazu. Mehr braucht kein Mensch, hieß es und irgendwie war es tatsächlich so.
Über dem Tisch hing ein Regal, in dem sich ein paar Sachen befanden, die einen privaten Charakter besaßen. Nichts Wertvolles. Das lag unter Verschluss und darauf hatte er keinen Zugriff. Umgeben von seinen eigenen vier Wänden saß er immer so da – Tag für Tag und Monat für Monat.
Auf dieser Etage wurden sie alle untergebracht. Die Kapitalverbrecher. Die Mörder. Seine Tat war bisher die schlimmste – die Umfangreichste auf jeden Fall. Er ließ den Kopf hängen und starrte nur auf den Boden. Eine Weile dauerte es schon, bis er sich selbst und die gesamte Situation wahrnahm.
Matt fühlte er sich, blass, schwach und schlapp. Hätte er jetzt drei Wünsche frei, hieße keiner davon Flucht oder Unterhaltung. Vielleicht war er bloß müde und hungrig. Seine Augen waren länger geschlossen als sonst. Er wollte der Realität aus dem Wege gehen. Langsam drangen die Geräusche, die aus den Nachbarzellen stammten, an sein Ohr.
Für die nächsten Jahre, deren Anzahl weit über die seines eigenen Lebens hinaus reichen wird, war das sein Zuhause. Früher wollte er alt werden, sehr alt sogar. Er wollte jede Pore seiner Haut mit Leben füllen und zu jeder Sekunde Freude verspüren. Lebensfreude. Nun wollte er bloß noch da sitzen und wünschen, es wäre nie so gekommen. Die Zeit zurückdrehen können war zu seinem Bedürfnis geworden.
Und dann begann er Stück für Stück zu begreifen, wo er sich befand … im Gefängnis, in einer Zelle und von dort gab es kein Entrinnen mehr. Hier war seine Endstation und damit sollte er sich schleunigst anfreunden.
Das alles lag nun schon viele Jahre zurück und dennoch erinnerte er sich an jeden Moment, als hätte er gerade erst stattgefunden. Er schaute nicht verbittert drein, brachte sich ab und zu in Gespräche ein und verstand sich mit seinen Mithäftlingen, so gut es ging. Er wurde zu niemandes Freund und niemand suchte eine Freundschaft mit ihm. Seine Wärter behandelten ihn mit der nötigen Freundlichkeit, doch blieben die Formen gewahrt. Er war der Sträfling und sie das Personal. Da existierte eine Grenze – eine unsichtbare.
Sie rochen anders. Sie gingen nach Feierabend nach Hause und brachten diesen Duft von Familie, Leben und Freiheit mit herein. Er lief während seines Freigangs im Hof herum. Sommer wie Winter. Kein Leben. Keine Familie und weit und breit und keine Freiheit. Der Geruch, den er einatmete, änderte sich nie. Jeden Tag begegnete ihm die Frage nach dem Warum.
Irgendetwas war in ihm. Der kleine Funke Hoffnung war es nicht, es musste sich um etwas anderes handeln. Was würde ihn noch erwarten und auf was sollte er überhaupt noch warten? Wäre mit einem Schlag alles vorbei, würde kein Hahn danach krähen. Alles wäre zwar irgendwie anders und doch aber nicht. Die Welt hätte zwar einen Bürger weniger, doch sie böte mit der freien Zelle gleich wieder Platz für den nächsten. Dem Ozean einen Tropfen Wasser zu entnehmen würde zwar den Meeresspiegel senken, doch es fiele niemandem auf. Und genauso sah er die Dinge mittlerweile.
Er sah sich aus einer anderen Perspektive, als es andere taten. Seine Sichtweise war die für ihn bestimmende – die relevante und letztlich maßgebliche. Doch was würde ihn erwarten? Auf was deutete sein Gefühl hin? Womöglich etwas Erfreuliches? Eine Ablenkung? Hätte es etwas mit seiner Haft zu tun? Mit seiner Zelle?
Sein Tagesablauf gestaltete sich recht einfach und wurde stets durch irgendwelche akustischen Signale angekündigt oder von Hinweisen durch Wärter bestimmt. Auf ihn schien nichts mehr zu warten. Alles entsprach nunmehr einer automatisierten Absolvierung und fügte sich in die Ordnung eines riesigen Räderwerks ein. Er fühlte sich keiner Aufgabe mehr unterworfen und nirgendwo sah er sich einer Bestimmung zugehörig. Wie ein Wassertropfen im Meer, der ohne Kraft und erkennbaren Eigennutz hin- und hergetrieben wurde.
Die Strecke fand ihren Anfang mit dem allmorgendlichen Aufstehen, dem anschließenden Frühstücken, dem Auf- und Abgehen in der Zelle oder dem Hin- und Herwandern auf dem langen Flur vor seinem Gefängnisraum, das er sich im Laufe der Jahre vertrauensvoll erarbeitet hatte. Außer dem täglichen Rundgang im Freien, stellte es für ihn eine besondere Güte dar, wenn er den Gang hin- und herlief. Für ihn war jeglicher Aufenthalt außerhalb seiner vier Wände aus Gründen der Sicherheit verboten.
Diese Sonderzuwendung entsprach sozusagen einem beiderseitigen Entgegenkommen als Vertrauensbeweis, das er niemals aufs Spiel setzte. Innerhalb der vielen Jahre, die er mittlerweile dort verbracht hatte, lernte er sich anzupassen und unterzuordnen. Er parierte. Manchmal kam er sich selbst wie ein dressierter Zirkusgaul vor, der die Kunststücke nur vollführte, um anschließend mit einer Karotte belohnt zu werden.
Und dann kam der Mittag, der Nachmittag mit seinem Spaziergang und dem folgte der Abend, dem sich die Nacht anschloss – Tag für Tag und Jahr für Jahr. Eine Tretmühle des Einerlei. Manchmal regnete es während er seine Freistunde genoss. Der Wärter, der ihn zu beaufsichtigen hatte, stellte sich unter, um nicht nass zu werden. Doch er lief herum, als schien die herrlichste Sonne. Triefnass traf er dann ein und wurde wieder hinter Schloss und Riegel gebracht.
Oft lag er nachts da, wälzte sich von einer Seite zur anderen und konnte nicht einschlafen. Die Geschehnisse, weshalb er sich eigentlich dort befand, waren nicht der Grund. Auch war es nicht sein Gewissen, was ihn wach hielt … nicht mehr. Mittlerweile verfolgten ihn die Dinge zwar immer noch, doch beileibe nicht so drastisch, wie zu Beginn seiner Inhaftierung.
Aber manchmal hörte er ein eigenartiges Klopfen. Niemand sonst war da. Woher kam es? Er richtete sich auf und versuchte die Herkunft zu orten. Jemand anderen, den er hätte fragen können, ob das Geräusch ausschließlich von ihm vernommen wurde, war nicht anwesend. Nicht mitten in der Nacht, denn die Kontrollen der Aufsicht fanden stets von außen durch das Guckloch der Zellentüre statt.
Klopfte es vielleicht nur in seinen Ohren? Was hörte er da? Waren es die Art von Töne, vor denen er bereits – wenn auch nur scherzhaft – gewarnt worden war? Sie traten immer dann, kurz bevor ein Betroffener wahnsinnig wurde, wie ein Signal in Erscheinung. War er ein solcher Kandidat und hörte bereits die ersten Alarmhinweise?
Er musste über seinen Schatten springen und sich einem Wärter anvertrauen. Doch er zögerte und verschob es auf einen anderen Tag. Unsicherheit überkam ihn. Würde sich ein Aufseher über ihn und sein Hörerlebnis lustig machen? Ihm fehlte tatsächlich der Mut zu diesem Schritt. Was hatte er noch zu verlieren? Höchstens das Gesicht gegenüber den anderen Gefangenen. Er kannte sie lediglich vom sehen, wenn er allein über den Gang wanderte und ihm dort jemand begegnete. Gestenhaft wurde sich gegrüßt. Niemand verlor dabei ein Wort.
Dieses Klopfen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Möglicherweise hatte er sich auch verhört und dieses Geräusch kam nie mehr wieder. Vielleicht arbeitete das Mauerwerk und verursachte die seltsamen Laute. Es waren aber immer dieselben, als würde jemand mit einem harten Gegenstand gegen etwas schlagen. Diese Töne besaßen stets dieselbe Intensität, es entstand immer derselbe Rhythmus und alles passierte unentwegt zu ein und derselben Zeit. Das wäre für ein Gemäuer allerdings höchst untypisch gewesen.
Also würde ihm der Wahnsinn doch schon bald begegnen, ihn frech angrinsen, packen und nicht wieder loslassen. Das Schicksal nähme endlich Rache an ihm, wenn auch in einer heimtückischen Weise.
Er war arrestiert und würde niemandem entrinnen können – auch sich selbst nicht. Bisher vermochte es noch niemand seiner Fügung zu entwischen. In manchen Nächten fühlte er sich durch das Klopfen stark belästigt – ja, geradezu heimgesucht. Er empfand sich persönlich angesprochen und kam sich so vor, als hätten ihn böse Geister als Ziel ihrer Untaten ausgesucht.
Dann war es wieder weg. Einfach so. Tagelang. Vielleicht war es gar nicht weg, sondern er hörte es bloß nicht. Ihm fiel es so extrem auf, dass er beinahe schon annahm, es zu vermissen. Dieses Klopfen schien zu seinem Tagesablauf zu gehören und wenn es fehlte, entstand eine Lücke. Die Ruhe dauerte jedoch nur ein paar Tage. Dann präsentierte sich wieder alles wie eh und je.
Erneut wurde er aus dem Schlaf gerissen. Der Lautstärke nach zu urteilen, kam es dem erregten Fingertrommeln auf einer Tischplatte gleich, doch es handelte sich weder um ein Brett, noch um ein Regal oder etwas Ähnlichem. Es entsprach eher dem Schlagen mit einem harten Gegenstand an einer Wand. Abermals stellte er seinen Oberkörper mitten in der Nacht auf, drehte seinen Kopf langsam hin und her und versuchte den Ursprung des Geräuschs zu bestimmen. Es war lediglich da, doch es gelang ihm nicht auszumachen woher es kam. Nun waren all seine Möglichkeiten ausgeschöpft und er stand quasi mit dem Rücken zur Wand. Da fasste er den Entschluss sich einem Wärter anvertrauen. Schon in der kommenden Nacht sollte es geschehen.
Bereits einige Minuten vor dem nächtlichen Kontrollgang stellte er sich in die direkte Nähe des Zelleneingangs, um den Moment abzupassen, in dem ein Wärter die Abdeckung der runden Türöffnung zur Seite schob. Und dann hörte er die Schritte und wusste, dass es gleich passieren würde.
Zwei Aufseher kannte er. Die anderen Aufsichtspersonen, die er lediglich vom Sehen her kannte, hatten mit diesem Korridor nichts zu tun.
In dieser Nacht ging der Jüngere über den Flur. Er erkannte es am Schritt. Der Deckel, der das Guckloch der benachbarten Zellentüre abdeckte, fiel wieder zurück in seine Ausgangsposition. Seine vier Wände waren die nächsten, die optisch kontrolliert wurden.
Nervös war er und hilflos kam er sich vor. Ein leises Quietschen wies darauf hin, dass der Uniformierte just die Abdeckung zur Seite bewegte, um den Raum inspizieren zu können. Drinnen brannte lediglich das sogenannte Notlicht. Es erhellte den Raum nicht mehr, als der Schein einer kleinen Kerze. Ansonsten war es stockfinster. Lag der Häftling verletzt auf dem Boden oder friedlich im Bett? Mehr wollte niemand wissen.
Jetzt war der Moment für ihn gekommen … jetzt musste er sich bemerkbar machen. Vernehmbar pochte er gegen die Türe und hörte gleich darauf den Schlüssel im Schloss. Alles schien auf einmal gleichzeitig zu passieren. Das Licht ging an, die Türe öffnete sich, vor ihm stand der jüngere der beiden Wärter und fragte ihn was los sei. Aufgeregt schilderte er die Situation und sah in zwei weit aufgerissene Augen, die ihn aus einem ungläubigen Gesicht anstarrten. Vielleicht hielt der Aufseher alles für einen großen Schwindel, den er sich zur persönlichen Belustigung ausgedacht hatte, denn er grinste recht hämisch und wollte schon wieder gehen.
Doch dann drehte er sich noch einmal um und legte sein Ohr an jede Wand, zumal er dieses typische Klopfen nun auch hörte. An drei Wänden schüttelte er verneinend den Kopf. Von dort konnte es also nicht kommen. Seiner Ansicht nach kam es aus der Richtung, welche die Kopfwand des Raumes ausmachte. Doch dahinter befand sich nichts mehr. Immerhin war das der letzte Zellenraum. Genau da war das Gebäude zu Ende. Nun schüttelte er wieder mit dem Kopf, aber ganz anders. Das Klopfen war zwar vorhanden, doch der Wärter konnte nicht begreifen, woher es von dort überhaupt kommen sollte.
Unentwegt zuckte er mit den Achseln, behielt dieses eigentümliche Kopfschütteln und schaute jetzt auch anders. Sein gesamter Körper ließ Unverständnis erkennen. Dann legte seine Hand freundschaftlich auf die Schulter des Inhaftierten, bewegte sich zum Zellenausgang, schloss die Türe hinter sich und trottete langsam den Gang hinunter zu seinem Büro.
Dort setzte er sich an den Tisch zu seinem Kollegen, griff zur Thermosflasche und schenkte sich zunächst eine große Portion Kaffee ein. Es dauerte einen Augenblick, bis er wieder zu seiner alten Form fand. Sich den fragenden Blicken seines Kollegen beugend, erzählte er ihm die gesamte Angelegenheit.
Freundlich lächelnd und mit erkennbarem Verständnis hörte ihm der Ältere zu. Der war schon länger als ein halbes Jahrhundert in der Haftanstalt beschäftigt und kannte das Gebäude in- und auswendig. Früher, so ließ er seinen jüngeren Arbeitskameraden wissen, grenzte an die Wand, die nun den Abschluss des Gebäudes bildet, ein weiterer Trakt, der schon vor vielen Jahren abgerissen wurde. Der Gang, der jetzt durch die Mauer begrenzt wird, besaß früher eine Durchgangstüre und führte dahinter weiter.
Gleich die erste Zelle würde mit ihrer Stirnseite an die Wand grenzen, aus der das Klopfgeräusch vernommen wurde – wenn der Gebäudeteil nicht vor vielen Jahren schon abgerissen worden wäre. Aus der Perspektive, des in dem Gebäudeflügel untergebrachten Büros, war dieser Haftraum auch die Zelle am Ende vom Gang und auch das war eine Einzelzelle.
Der ältere Kollege berichtete weiter und schaute nun auch in zwei weit aufgerissenen Augen, die ihn allerdings aus einem staunend, neugierigen Gesicht anstarrten. Der dort Inhaftierte saß wegen einer Reihe von Morden ein und sollte – gemäß dem damaligen Urteil: Tod durch den Strick – am Galgen hingerichtet werden. Bis zum letzten Atemzug beteuerte er jedoch unschuldig zu sein.
Der jüngere der beiden war von den Ausführungen geradezu fasziniert. Es würde zwar einiges erklären, doch noch lange nicht das Klopfgeräusch, das er dort mit eigenen Ohren hörte. Also bat er seinen Berufsgenossen sich doch selbst ein Bild von der Angelegenheit zu machen und ihn am folgenden Tag zu begleiten. Dann könnte auch er die Töne hören.
Die kommende Nachtschicht bot die nächste Gelegenheit. Zuerst wurden die Kontrollgänge wechselweise absolviert. Das handhabte jedes Team so. Als dann die Finsternis hereinbrach und auch wieder die Zelle am Ende vom Gang aufgesucht werden sollte, schritten sie zu zweit den Korridor entlang. Der Routine folgend, schauten sie erst einmal in den anderen Arresträumen nach dem Rechten. Der Vorgang war stets derselbe. Ein geschulter Blick durch den Spion, alles okay und vollzählig, innerlich nicken, abhaken und zur nächsten Türe. So verhielt es sich in jeder Nachtschicht zur vollen Stunde und so wurde es allgemein umgesetzt.
Als sie bei der letzten Zelle angekommen waren, schloss der jüngere Wärter die Türe auf und traf auf den immer noch munteren Zellenbewohner. Das Klopfen würde ihn wach halten, sagte er und staunte über den zweiten Wachmann, den er selbstverständlich auch kannte.
Der Jüngere schilderte die Situation und erzählte von dem Verurteilten nebst der anderen Zelle, die direkt an die Stirnseite des Raumes grenzte, in dem sie sich gerade befanden. Auch berichtete er von dem mittlerweile abgerissenen Gebäudeteil, der den noch stehenden Trakt in gespiegelter Form fortgesetzt hatte.
Während sie dort standen und sich mit der Angelegenheit befassten, drückte der ältere der beiden Wachleute sein Ohr an die Wände, zumal auch das Klopfen wieder gegenwärtig war. Seine Gesten entsprachen denen, die sein jüngerer Kollege bereits tags zuvor vollführte. Drei Mal schüttelte er seinen Kopf und an der Kopfwand hielt er inne, lauschte erheblich genauer und erkennbar länger.
»Das ist nicht irgendein Klopfen!«, sagte er deutlich. »Das sind Morsezeichen!«
Darum besaßen sie ständig den gleichen Rhythmus, dachte der Zelleninhaber.
»Und was bedeuten sie?«, fragte der Jüngere der beiden wohl wissend, dass sein älterer Kollege schon seit vielen Jahren Hobby-Funker war und sich daher mit Morsezeichen bestens auskannte.
»Ich … bin … unschuldig, bedeuten sie«, antwortete er.
Mehr konnten die beiden an diesem Abend nicht herausfinden. Sie schlossen die wuchtige Türe hinter sich zu und marschierten wieder in ihren Aufenthaltsraum. Noch in derselben Nacht las der Ältere in den früheren Akten, dass dem Verurteilten der letzte Wunsch, den Weg zum Galgen in ziviler Garderobe antreten zu dürfen, gewährt worden war.
Demnach zog sich der, auf den der Strick wartete, unter Aufsicht in seiner Zelle um und schlug mit seinen harten Lederabsätzen noch ein letztes Mal gegen die Wand. Später wurde in diesem Raum ein Buch mit dem Titel „Morsen für jedermann“ gefunden. Es stand noch eine Menge mehr in der Akte zu lesen, doch das Wichtigste hatte er nun erfahren.
Gemeinsam traten die beiden Wachleute den Nachhauseweg an. Jetzt konnte der ältere der beiden, seinem jüngeren Kollegen die Wand von außen zeigen, an der sich noch zu früheren Zeiten ein ganzer Trakt befand. Als sie sich der Wand näherten, sahen sie die Abdrücke. Sie waren immer noch deutlich zu sehen. Der Regen hatte sie nicht abgewaschen. Sie schienen sich immer wieder zu erneuern.
»Dort sind die Spuren seiner Lederabsätze noch deutlich zu sehen«, sagte der Ältere. Er sah einen nickenden Kopf und zwei weit aufgerissene Augen des jüngeren Kollegen.
»Doch wer klopft jetzt?«, fragte der.
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