Es dauerte einige Zeit. Sehr oft erreichten die Nachrichten in Form eines Briefes den Empfänger erst nach vielen Tagen oder Wochen. Also kam es recht selten vor, dass der Adressat zu kurz bevorstehenden Ereignissen eingeladen wurde oder andere Dringlichkeiten diesen Weg nahmen. Kaum jemand konnte Schreiben oder Lesen und allein darum wurde es stets zu einem Ereignis besonderer Art, wenn jemand eine schriftliche Mitteilung bekam.
Dann gingen sie zu ihm, denn zu ihm hatten sie alle Vertrauen. Sie waren praktisch dazu gezwungen zu ihm zu gehen – weit und breit war er der Einzige. Das Vertrauen entwickelte sich erst im Laufe der Zeit. Er konnte lesen und schreiben. Er war der Kundige. Das restliche Dorf konnte es nicht … nicht Lesen und auch nicht Schreiben. Wozu sollten sie es können und was hätte es ihnen genutzt? Selten bekamen sie einen Brief und wenn sie Post bekamen, ließen sie sich den Inhalt von ihm vorlesen.
Fast jeder war irgendwann einmal bei ihm und musste etwas Schriftliches erledigen. Dann schilderte jeder sein Anliegen und ließ ihn gewähren. Damit entstand das Vertrauen und das Wissen seinerseits, das er von fast jeden im Dorf besaß. Man kannte ihn, doch er kannte die anderen erheblich besser.
Sein Vater brachte ihm die erforderlichen Fertigkeiten bei und er folgte dieser Tradition treu.
Irgendwann bekam er selbst einen Brief, aus dem der Tod einer Tante hervorging. Sie vererbte ihm ein kleines Grundstück, welches direkt in der Nähe lag. Dort ritt er hin, schaute es sich an und war wenig begeistert. Er sah weder Bäume, noch Hecken oder Sträucher und noch nicht einmal einen kleinen Bach, der frisches Wasser transportiert. Er legte die Erbschaft zur Seite und behielt nur seine verstorbene Tante in zwar guter, doch wenig gönnerhafter Erinnerung.
Ein paar Tage später nahm er das ererbte Grundstück genauer in Augenschein. Er konnte wirklich keinerlei Gewächse, noch nicht einmal eine Ackerfrucht entdecken. Auch stand kein Gebäude darauf, in dem sich wohnen ließ und das er verkaufen könnte.
Alles gestaltete sich klein, um nicht zu sagen mickrig. Das Anwesen bot aufgrund seiner Ausmaße auch keine Möglichkeit ein Haus darauf zu bauen, um daraus einen Profit zu schlagen.
Auch existierten keine Besonderheiten, die das Grundstück als etwas Herausragendes dastehen lassen könnten oder ihm sofort aufgefallen wären. Er sah bloß ein einfaches Stück Land von geringer Beschaulichkeit.
Eines Tages betrat ein armer Bauer sein Haus, legte ihm einen versiegelten Umschlag vor und bat ihn, wie es schon Unzählige vor ihm taten, ihm den Inhalt dieses Briefs vorzulesen. Zunächst und das tat er immer so, überflog er die Zeilen im Stillen für sich, bevor er sie laut vorlas. Damit wollte er sein Gegenüber nur behüten, zumal nicht selten auch unangenehme Mitteilungen zu verkünden waren – ja, selbst Todesnachrichten von lieben Verwandten traten auch diesen Weg an. In diesem Schreiben handelte es sich ebenfalls um den Tod eines Verwandten, der ebenfalls ein Grundstück vererbte.
Neben dem eigentlichen Testament befanden sich auch sämtliche Urkunden der Erbschaft mit in diesem Kuvert.
Da kam ihm eine Idee. Er sagte dem Bauern, dass er sich zunächst mit dem Inhalt vertraut machen müsse und bat höflich darum, ihn am darauffolgenden Tag ein weiteres Mal aufzusuchen, weil das Schreiben doch sehr umfangreich war und er sich erst damit befassen müsse. Der Bauer besaß keine Eile und hegte in seiner Ungewissheit auch keinen Argwohn. Somit verabredete er sich für den nächsten Tag und ging seines Weges.
Da sich dieses Grundstück auch in der Nähe des Dorfes befand, beschloss es der Kundige ebenfalls in Augenschein zu nehmen. Da stand er dann und traute seinen Augen nicht. Zuerst zweifelte er, doch die Urkunden, die sich im versiegelten Briefumschlag befanden, sprachen die Wahrheit. All das sollte der arme Bauer erben? Blühende Felder, Obstbäume, deren Äste sich bogen, weil sie voller saftiger Früchte hingen? Und sogar ein kleiner Bach schlängelte sich dort entlang.
Das wollte er nicht zulassen und besann sich auf seine eigene Erbschaft. In Gedanken tauschte er schon die beiden Hinterlassenschaften aus und beschloss, dem armen Bauer sein geerbtes, karges Stück Land als Nachlass zu präsentieren. Den Unterschied würde der unbedarfte Bauer ohnehin nicht merken, überlegte der Hinterlistige und die vielen Unterlagen, Papiere und Beglaubigungen ähnelten einander ohnehin, wie ein Ei dem anderen.
Wie erwartet erschien der Bauer am nächsten Tag in seinem Haus und war voller Erwartung. Routiniert griff der Kundige in eine große Schatulle und entnahm ihr die zuvor bereits ausgetauschten Dokumente. Der ahnungslose Bauer erkannte tatsächlich keinen Unterschied, als er sie dankend entgegennahm.
Für ihn handelte es sich um genau die Schriftstücke, die er am Tag zuvor in seinen eigenen Händen gehalten hatte. Dass es sich dabei um völlig andere Dokumente handelte, konnte er keineswegs erkennen.
Zuvorkommend eröffnete ihm der Kundige, dass er sich mit dem Inhalt des ihm anvertrauten Umschlags intensiv befasst hat und die darin enthaltenen Unterlagen, Dokumente und Beglaubigungen jeder Überprüfung standgehalten haben. Er gratulierte dem Bauer zu der Erbschaft und las ihm den Inhalt des Briefes so vor, dass keinerlei Hinweise auf die tatsächliche Erbschaft entstanden.
Der arme Bauer konnte seinen Segen kaum fassen. Freudestrahlend nahm er sein Gegenüber am Arm und tanzte singend mit ihm durch das Zimmer. Anschließend stießen sie mit einem guten Schnaps auf dieses Glück an und der Bauer trat mit dem Gefühl, das große Los gezogen zu haben, den Heimweg an. Dort präsentierte er seiner Frau die Erbschaft. Auch ließ er es sich nicht nehmen, vor seinen Nachbarn damit zu prahlen.
Am nächsten Tag ging er schon früh aus dem Haus, um sich das ihm vererbte Grundstück genauer anzuschauen. Da stand er dann und starrte auf denselben trockenen Acker, vor dem der Kundige auch schon stand. Schlagartig sank das Gefühl, das große Los gezogen zu haben, um mehr als die Hälfte und der Bauer betrachtete die Erbschaft mit anderen Augen.
Die plötzlich auf ihn niederprasselnde Scham drohte ihn zu erschlagen und die Frage, wie er es seiner Frau und den Nachbarn beibringen sollte, rückte beängstigend näher. Nach seiner Ansicht war das Grundstück ebenso werthaltig, wie sein heimischer Hinterhof, auf dem auch nichts angepflanzt wird.
Mit einem Schlag wurde es eisig kalt um ihn herum. Er fühlte sich erbärmlich, einsam und armselig. Diese Empfindung ließ sich nicht mehr bremsen – sie wuchs und wuchs.
Ein mickriges Stück Land lag vor seinen Füßen und vermittelte einen beklagenswerten Eindruck. Er hatte sich mehr von dieser Erbschaft erhofft, doch das Schicksal war ihm offensichtlich nicht besonders hold. Gesenkten Hauptes und all seiner Träume beraubt, trottete der Bauer nach Hause und berichtete nur seiner Frau von dem, was er sah und nun sein Eigen nennen darf. Seine Frau nahm ihn in den Arm und tröstete ihn.
Bestimmt aber wäre das Grundstück groß genug, um einen Brunnen darauf stellen zu können, meinte seine Frau. Bereits am darauffolgenden Tag packte der Bauer das passende Werkzeug auf seinen Ochsenkarren, fuhr hinaus zum Grundstück und begann zu graben. Um auf Wasser zu stoßen, musste er tief graben, das wusste er und hoffte auf einen nicht allzu harten Boden. Er wusste auch, dass die Erde ab einer gewissen Tiefe feucht werden müsse. Denn bliebe sie so trocken, wie sich das gesamte Stück Land bisher dargestellt hat, wäre kein Tropfen Wasser vorhanden und die ganze Arbeit umsonst gewesen sein.
Es würde nicht der erste Brunnen sein, den er gebaut hätte. In diesen Dingen war er firm und besaß Erfahrung. Auch wusste er wie mühsam sich sein Tagwerk gestalten könnte. Ein tiefes Loch zu graben, um dann glücklicherweise auf Wasser zu stoßen, bedeutete immer wieder eine schweißtreibende Schufterei geleistet zu haben.
Alle Abwägungen und alles Fluchen half nichts. Und so gab er sich einen Ruck und begann. Wenn auch seine Mühen gewaltig sein würden, käme er ohne den Versuch es zu wagen, nie zu einem schlüssigen Ergebnis.
Die ausgegrabene Erde schaffte er direkt auf seinen Karren und lud sie auf dem Heimweg im alten Steinbruch ab. Den erreichte er ohne Umweg, denn dort fuhr er ohnehin entlang.
Tag um Tag begab er sich zu seinem neuen Grundstück und grub und grub. Einige Meter tief war er bereits ins Erdreich vorgedrungen, doch dabei noch lange nicht auf das erhoffte Nass gestoßen. Ebenso winkte ihm noch nicht einmal der der Bau eines Brunnens zu. Alles rückte in weite Ferne und oftmals zweifelte der Bauer an seinem Tun.
Währenddessen kümmerte sich seine Frau um den Hof, denn dort kam die Arbeit fast zum Erliegen. Jeden Abend hörte sie den Ochsenkarren auf den Hof fahren und nahm ihren erschöpften Mann in den Arm. Sie musste ihn nie fragen, ob er auf Wasser gestoßen war, denn seine hängenden Schultern gaben darüber Auskunft und sagten schon alles aus. Wie gerne würde er ihr von feuchten Gründen und dem baldigen Fund des ersehnten Wassers berichten … doch vielleicht musste er seine Grube bloß noch ein wenig tiefer ausheben.
Sie gab ihm Kraft und machte ihm Mut. Am kommenden Morgen fuhr er, wie an allen anderen Tagen zuvor schon, wieder hinaus. Alles gestaltete sich wie immer und jeder Stein erschien ihm wie gewohnt. Nichts hatte sich geändert. Kein Wunder war geschehen, dennoch er auf der Fahrt nach Hause so sehr darum bat und seinen Blick flehend gen Himmel gerichtet hatte.
Hörte Gott ihm nicht zu? Hörte Gott ihm jemals zu? War Gott anderweitig beschäftigt? War er ein undankbarer Bittsteller? Zeigte er keine Dankbarkeit? War er zu gering, als dass Gott ihn erhören sollte? Der Bauer begann zu zweifeln und fühlte sich, ob seines Wankelmutes, bereits im selben Augenblick schuldig. Er sollte entschlossen sein und sich wieder ans Werk begeben, anstatt den Herrn des Himmels um Hilfe zu bitten.
Widerwillig war sein Handeln und dennoch stieg er hinab in seine selbstausgehobene Grube, in der er möglicherweise einmal auf die Stelle treffen würde, die ihn zum Weitergraben ermutigen wird. Mit Hacke, Schaufel und einem alten Spaten ging es weiter. Kräftezehrend war es jedesmal, wenn er die frei geschlagenen Erdklumpen aus der Grube wuchtete und von dort auf die Ladefläche seines Karrens geschaufelt hatte.
Nicht zum ersten Mal stand er erschöpft da und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Jedesmal schaute er dabei nach unten in die Vertiefung neben sich und staunte anerkennend über seine eigene Leistung. Von dort wo er stand sah alles anders aus. Am Boden seiner Grube besaß die Erde eine andere Farbe und glitzerte. War sie bloß dunkler, weil die Sonne nicht dorthin schien oder wurde sie nun langsam nass? Kam er einer Wasserquelle etwa immer näher? Sollte sich sein Fleiß doch gelohnt haben?
Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Mit einem Satz sprang er hinab in die Tiefe und buddelte wie ein Besessener drauflos. Wie ein lästiger Ballast fielen sämtliche Zeichen einer Erschöpfung von ihm ab und mit jedem Zoll nahm die Erde an Feuchtigkeit zu.
Noch floss ihm nichts aus seiner Quelle entgegen, doch er glaubte es bereits riechen zu können.
Und da war es! Endlich! Zum Glück sprudelte ihm das Wasser nicht entgegen, doch er stand bereits bis zu den Knöcheln darin und es wurde immer mehr. Vor Freude sprang er in die Luft und stieß laute Jubelrufe aus. Flugs begab er sich zu seinem Wagen und fuhr an diesem Tage früher als sonst nach Hause. Diesen Erfolg musste er mit seiner Frau teilen, sie sollte es schnellstens erfahren.
Auf der Fahrt dorthin passierte er wieder den Steinbruch. Automatisch wurde er daran erinnert, dass er zum Bauen eines Brunnens Steine benötigen wird und die würde er dort bekommen. Günstig war es in jeder Weise, denn es lag auf seinem täglichen Weg. Die restliche Erde, die jetzt noch um das tiefe Loch lag, würde er dann zwischen den Brunnen und dem natürlichen Erdreich schütten, damit alles stabil bleibt und möglichst lange hält. Den Brunnen müsste er allerdings erst noch bauen, danach könnte er getrost weiterträumen. Doch jetzt wären seine Träume keine Luftschlösser mehr, sondern Zukunftspläne.
Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von dem Wasser, das seinen Born füllen soll und nur noch wenige Augenblicke trennten ihn von dem Moment, an dem er seine Frau in den Arm nehmen und ihr verkünden wird, es endlich geschafft zu haben.
Sie sollte recht behalten. Ihre ursprüngliche Vermutung wurde zur Wirklichkeit. Tief in der Erde befand sich tatsächlich Wasser und das kleine und tatsächlich karg und unscheinbare Stück Land, das sein vermeintliches Erbe war, erlangte von einer Sekunde zur nächsten ein völlig anderes Ansehen. Plötzlich stand es als begehrenswertes Fleckchen Erde da.
In dieser Region existierte Wasser nur dann, wenn es regnete. Ansonsten bedeutete das Heranschaffen dieser Flüssigkeit mühevolle Arbeit und das galt für sämtliche Bauern in dieser Gegend. Jedes Jahr war die komplette Ernte davon abhängig und das stellte eine ungeheure Belastung da.
Der Bauer wusste das und begab sich ehrgeizig ans Werk, eine Steinmauer um seine Wasserquelle zu errichten. Sein Brunnen soll jedem anderen Landmann in diesen Breiten helfen. Da er jedoch alleine arbeitete, würde es wohl noch einige Tage dauern.
Und dann stand er seiner fertigen Arbeit staunend gegenüber und war stolz auf sich. Er machte sich Luft und schrie seine Freude in den Himmel hinaus. Anschließend setzte er sich auf seinen Ochsenkarren und fuhr heim. Nun war die gröbste und schwerste Arbeit getan. Aus dem kleinen Stück Land ragte ein Brunnen in Kniehöhe heraus und der lieferte Wasser für viele Böden und Äcker. Niemand müsste nunmehr wegen Wassermangel um seine Ernte bangen. Von diesem Tage an konnte er die Versorgung sicherstellen.
All das berichtete er seiner lieben Frau und strahlte sie dabei freudig an. Sie war ebenfalls begeistert, doch sie sah in diesen Vorgängen ein großes Glück für sie beide. Er müsste das Wasser bloß nicht gratis zur Verfügung stellen, sondern gegen eine entsprechende Vergütung verteilen. Der Bauer ließ sich diese Idee kurz durch den Kopf gehen und war damit einverstanden.
Nun ging es nur noch darum die Neuigkeit zu verbreiten. Wie eine ansteckende Krankheit rannte die Tatsache, zu jeder Zeit und ohne übermäßige Anstrengung über Wasser für die Ernte zu verfügen, durch das ganze Land und gelangte auch an die Ohren des Kundigen. Vor Wut darüber schlug er derart fest mit der Faust auf den Tisch, sodass sich sämtlich Gegenstände in die Höhe begaben.
Indes belieferte der Bauer alle umliegenden Ländereien und wurde schon bald darauf zum reichsten Mann in der ganzen Gegend.
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