Das Land der Vergessenen

Mai 23rd, 2019 by Lutz Spilker

Manchmal klickte er sich vor lauter Langeweile und Überdruss völlig planlos durchs Internet und war nicht selten völlig überrascht, wo er dann hingelangte. Na klar, irgendwo landete er immer. Das Internet war schließlich kein Feldweg mit einem Anfang und einem Ende.

Erst neulich stieß er bei einer seiner Zufallsurfaktionen auf eine Grafik, die irgendetwas darstellte und kollektiv darüber gerätselt wurde, um was es sich dabei handeln könnte. Das Bild besaß keine weiteren Angaben außer der, dass es von einer Google-Map stammte und genau dorthin klickte er sich hin.

Ein tolles Ding, was da im Internet steht. Es kommt einem elektronischen Atlas sehr nahe. Unter Eingabe eines Orts oder der Postleitzahl, kann sich dem Ziel aus der Vogelperspektive angepirscht werden, als befände sich der Betrachter auf der Jagd. Zuerst schaute er natürlich dort nach, wo er selbst wohnt und wie die Gegend aus der Luft betrachtet aussah. Aha. Er war erstaunt – dort wohnte er also. Von oben sah alles so aufgeräumt und friedlich aus. Selbst Gegenden, die als sogenannte No-Go-Areas bekannt waren, sahen aus der Luft betrachtet vertrauenerweckend aus.

Die Landstriche wurden scheinbar immer nur dann fotografiert, wenn gerade nichts los war. Kein Betrunkener fiel von einer Straßenseite zur anderen und niemand beraubte ihn dabei. Von einem »No-Go« war jedenfalls weit und breit keine Spur. Auch war niemand mit einer Bomberjacke oder einer anderen eher auffälligen Kleidung zu sehen, der jemand anderen mit einem Baseballschläger bedrohte. Alles war so sauber, als wäre dort gerade erst gefegt worden. Genau da würde jeder gerne wohnen, wenn bloß etwas mehr Grünfläche zu sehen wäre, dachte er bei sich.

Aber auch bei Google-Map überfiel ihn wieder diese Langeweile und er trat eine kostenlose Weltreise an, indem er sich kreuz und quer durch die Kontinente bewegte, ohne überhaupt zu wissen, wo er sich gerade befand. Alles zoomte er heran und beäugte das jeweilige Terrain aus nächster Nähe. So betrachtet ähnelte ein Ausschnitt dem nächsten.
Gähn … Langweilig … Wieder passierte nichts.
Sture Leute … Stehen stocksteif da … Keiner winkt.
In TV-Sendungen winken die Leute fast immer.

Für den Bruchteil eines Moments war er beschäftigt. Doch dann kroch sie ganz langsam wieder an ihm hoch, in ihn hinein und lähmte ihn – diese elende Langeweile. Mit der Computer-Maus drehte er dann noch an dieser virtuellen Erdkugel bis … Moment …da war doch was.

Zurück drehen und schön die Augen aufsperren. Da war es doch … er hatte es wieder gefunden … puh … Schwein gehabt. Aber was ist das? Irgendwas bewegt sich dort. Aber wie kann das sein? Winkt da wirklich jemand? Es ist doch bloß ein Bild und es kann sich eigentlich nicht bewegen.

Er zoomte noch ein wenig näher heran und sah einige Personen, die zu ihm schauten und ihm tatsächlich zuwinkten, als sei er ein in der Luft vorüber ziehendes Flugzeug.

Ein eigenartiger Augenblick. Völlig verstört winkte er zurück. Nun schien man ihn zu sehen und bestätigte sein Winken. Für einen Augenblick wendete er seinen Blick vom Bildschirm und rieb sich die Augen. Wollte sich jemand einen Spaß mit ihm erlauben und ihn necken, zur Verzweiflung bringen oder in den Wahnsinn treiben? Er wollte nicht verstehen, was er sah. Er träumte doch nicht etwa. Nein, er war hellwach.

Aber wer waren diese Leute und wo befanden sie sich? Auf welche Koordinaten hatte er die Erdkugel gedreht? Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren. Sein Schädel brummte und die Beine fühlten sich flatterig an. Zum Glück saß er, sonst würde er glattweg umfallen.

Wegen der permanenten Verbindung mit Skype, waren die Lautsprecher stets eingeschaltet, denn daraus hörte er plötzlich ein lautes Rufen. Es kam weder aus seiner Wohnung, noch bildete er es sich ein – es stammte demnach aus seinen Lautsprechern. Nun griff er nach dem Kopfhörer, denn so konnte er sich dem Rufen besser widmen.

Die Person, die er auf dem Monitor sah, legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief erneut. Er hörte das Geräusch ganz deutlich und war sich nun absolut sicher – das Rufen kam aus der Map … aus dem Bildschirm … aus den Lautsprechern, er war völlig durcheinander und verstand obendrein die Sprache des Rufers nicht. Irgendwie hörte sie sich slawisch an.

»Sprich englisch!«, rief er, »sonst verstehe ich dich nicht!«, fügte er brüllend hinzu. Die Person deutete ihm gestikulierend an, dass sie ihn verstanden hatte, drehte sich um und ging wortlos weg. Viele Leute waren dort. Alles schien ständig in Bewegung zu sein, wie in einem Ameisenhaufen. Mal war eine Person zu erkennen und im nächsten Augenblick verschwand sie vor seinen Augen wie eine untergehende Sonne.

Er verstand nichts von dem, was er sah oder was da vor sich ging. Er nahm keine Drogen, also war alles real. Alles erschien ihm nicht geheuer und er drehte sich mehrfach um. Außer ihm war aber niemand da. Bloß vor ihm die Leute, die sich auf seinem Bildschirm darstellten und die er über den Kopfhörer wahrnehmen konnte, waren noch anwesend.

Das ganze Schauspiel dort auf seinem Bildschirm musste demnach völlig andere Gründe haben. Aber welche?

Aha, es tat sich etwas. Eine andere Person bewegte sich auf ihn zu und berichtete, dass man sie ausgewählt hat, um mit ihm zu sprechen. Die andere Person sprach kein Wort Englisch und ging darum weg.
»Wo seid ihr da und woher kommt ihr?«, fragte er neugierig.
»Niemand weiß, wo wir hier sind«, antwortete mir die männliche Person etwas traurig. »Wir sind lebende Erinnerungen«, meinte er etwas verschüchtert. »Manchmal kommen neue Leute hinzu und andere verschwinden plötzlich«, ergänzte er noch.

Er stützte seinen Kopf auf und stierte ungläubig in den Bildschirm.
»Wir sind Menschen, die in Vergessenheit geraten sind«, begann der Mann weiter zu berichten. »Menschen, an die sich nur noch sehr selten oder gar nicht mehr erinnert wird. Hier werden wir so lange deponiert, bis man sich wieder an uns erinnert. Manche sind schon sehr lange hier und manche waren zwischendurch immer wieder mal weg und kamen dann zurück, waren wieder weg und sind dadurch dauernd in Bewegung«, erzählte er und senkte seinen Kopf dabei, als wäre es ihm peinlich gewesen, darüber zu sprechen.

»Alle Personen, die hier sind, erscheinen stets so, wie man sich zuletzt an sie erinnerte. Manche sind alt, manche sind jung, manche sind krank, manche sind gesund, manche sind traurig und manche sind fröhlich«, beschrieb der Mann sehr ausführlich.

Er antwortete nicht.
Es schien gerade so, als wolle er dem Dialog aus dem Wege gehen, weil er befürchtete irgendwann selbst einmal irgendjemanden vergessen zu können, der anschließend dort landen würde, bis er sich wieder an dieser Person erinnerte. Womöglich handelte es sich dann sogar um die eigene Mutter, den eigenen Vater oder eine Person, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielte.

»Wie oft bekommt ihr hier eigentlich Besuch?«, fragte er.
»Du bist der Erste, der jemals den Weg zu uns fand«, antwortete der Mann mit berufener Stimme, als ob er ihm damit einen besonderen Titel oder eine Verantwortung übereignen wolle. »Wenn du fort gehst, findest du nie mehr wieder hierhin zurück!«, ermahnte er ihn.

Es klang wie eine Drohung beziehungsweise wie ein Verbot sich zu bewegen und vermittelte gleichsam die Bitte zu bleiben.
»Irgendwann werde ich müde und ganz bestimmt bekomme ich Hunger und muss etwas essen«, brachte er als Erklärung vor. Allerdings klang es mehr nach einer Entschuldigung. Außerdem wollte er sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn plötzlich der Strom ausfallen würde.

Darauf hatte er schließlich keinen Einfluss und passieren kann es jedem.
»Und was ist, wenn du auf einmal verschwindest, weil sich jemand an dich erinnert?«, wollte er noch wissen. Doch auf einmal stand wieder der andere da, den er nicht verstand, weil er irgendwie slawisch klang.

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