Im Lande der Dichter und Denker

Mai 15th, 2014 by Lutz Spilker

Zu gewissen Epochen stellte es sich fast schon wie eine Verpflichtung dar, einer Erwartung gleichzukommen oder sich zumindest so aufzuführen, als ob man gewillt wäre, einer bestimmten Vorlage zu entsprechen. Diese, besagter Verpflichtung nachkommende Haltung, wedelte wie eine Knute vor den Augen und zwang den Betroffenen innerlich in die Knie, sobald ihn der Klang ereilte und von irgendwo ertönte: Dichter und Denker.

Völlig kritiklos unterwarf sich der Beteiligte nun einem Befehl gleich, knickte ein und ergab sich kampflos einer schier unbesiegbaren Übermacht …

Und noch immer klingt es in den Ohren. Goethes Faust oder Schillers Glocke werden bloß erwähnt und schon reagiert der Bürger wie anno dunnemals. Alle Beteiligten spielen ‚Blinde Kuh‘, tasten immer wieder dieselben Muster ab und orientieren sich an der alleinigen Feststellung, doch immerhin ein Bewohner des Landes der Dichter und Denker zu sein.

Sich des geadelten Bodens, auf dem in Andächtigkeit und permanentem Gedenken an jene, die dieses Land erst dazu machten, gewandelt wird, bewusst, wird den beiden Dichterfürsten in ehrfurchtsvoller Weise gedacht. Zu ihnen wird hochgeblickt und auf sie schaut die ganze Welt. Sie erst machten diese Nation zum gerne und oft zitiertem Land der Dichter und Denker!

Was war Deutschland zuvor? Die stumme Ackerscholle im Kleide des roten Teppichs für die Bittsteller und Regenten dieser Erde? Die personifizierte Aufmüpfigkeit, welche die Spaltung der Kirche provozierte? Die widerspenstige Gefolgschaft eines innovativen Franken? Eine gottlose und johlende Pöbelbande im rebellischen Kleide des furchtlosen Germanen?

Oftmals wird einer Zeit gedacht und ist stets über die Form des vorherrschenden Obrigkeitsdenkens erstaunt, welche dem aktuellen Geschehen scheinbar fernzubleiben hat. War das wirklich alles so? Nicht im Traum würde es jemandem einfallen zu erfragen, ob ein damaliger Zeitgenosse und Schillers Glocke nennender, diese auch imstande gewesen wäre gänzlich aufzusagen.

Hatte Schiller nur dieses eine Werk hinterlassen? Das Lied von der Glocke? Sie fiel den Räubern in die Hände und die machten ihn über alle Grenzen hinweg berühmt. Bei Goethe war es Faust. Gretchens loses Mundwerk ließ ihre kecke Frage zur Formel werden.

So wurden sie ausgeschlachtet, die beiden Herren. Sie mutierten zu Folterinstrumenten und zur Drohgebärde. Allein der Klang ihrer Namen schuf eine unermessliche Distanz. Sie schienen aus etwas anderem bestanden zu haben, denn aus Fleisch und Blut. Bereits im Ansatz eines mit der ewigen Verdammnis bestückten Zitate ließ erahnen, was dem folgt.

Lehrer, Väter und Großväter drückte ein aufgebürdetes Erbe. Sie schleppten es zwar aufrecht, doch sie trugen es auch gerne am Ziel vorbei. Sie versteckten sich hinter jenen Floskeln, welche als populäre Bruchstücke aus dem Ganzen gebrochen wurden, als handele es sich um Bibelsprüche. Glaubensfragen avancierten zur fräuleinhaften Gewissensfrage und jedes Erdloch inspirierte zur Erwähnung des in Bronze gegossenen Geläut.

Woran liegt diese unterwürfige Hilflosigkeit? Macht es ihr Können aus, das immer wieder als unerreicht und herausragend zitiert gilt? Postiert sich ihre Kunst noch immer als das Maß der Dinge, die sich als unbezwingbare Festung in den Weg zu stellen erdreistet? Aus heutiger Sicht ist es jedoch denkbar, dass sie bereits zu Lebzeiten damit begonnen haben, sich zum Denkmal für die Nachwelt zu entwickeln, ohne es allerdings beabsichtigt zu haben.

Wer nun zu dichten, zu reimen, seine Gedanken in schriftlicher Form dokumentieren oder darüber hinaus erfolgreich zu schreiben vermag, muss zumindest besonders sein. Goethe und Schiller waren es wohl.

Die Zeiten haben sich geändert, die Menschen taten es ihnen nach und die Welt hat sich mehrfach gedreht. Allen voran wäre die Technik zu nennen. Die Ansprüche, die Belange, die Kritikfähigkeit und die täglich und überall erscheinenden Medien, lassen die Literatur als Massenware erscheinen. Der Götz von Berlichingen wird auf einen trotzig, derben Ausspruch reduziert und die Glocke des Herrn von Schiller dient dem Taucher maximal noch als klangvolles Gewicht.

Der Leser heutiger Tage ist wohl mit weiteren Werken aus den Federn der beiden Herren vertraut, aber er konsumiert sie nicht in sprachloser Ehrfurcht, denn mehr in Ergänzung seines eigenen, literarischen Interesses oder Handelns. Mit Literatur wird demnach nicht mehr gedroht … sie wird verstanden.

Das pädagogische Element, welches die geistige Lähmung als Versuch des kampflosen Sieges zur Folge haben sollte, zwingt lediglich den Zweifel hervor. Erarbeitetes Verständnis begegnet mittlerweile der gedankenlosen Zustimmung, die einen Erfüllungsgehilfen vermuten lässt und allein darum nicht mehr zum Einsatz kommt.

Wird hier ein Denkmal rücksichtslos vom Sockel gestoßen, weil weder Kniebeugen noch andere gymnastische Huldigungen vollführt werden? Nein.

Es sind bloß die Berge, die nie mehr wieder erklommen werden wollen. Deren unerreichte Spitze in einer Höhe existiert, in der die Luft eine andere zu sein scheint und zu Ideen beflügelt, die nicht mehr der Jetztzeit entsprechen. Der Gedanke, diese Gipfel zu erreichen, erstickt bereits im Wunsch.

Er wird mit Geschenkpapier in der Überdimensionalität eines Filmplakats umwickelt, einer Schleife verziert und an sich selbst übergeben, doch nie ausgepackt.

Gleich einer Monstranz wird das Paket vor sich hergetragen und zeitweilens bestaunt. Überschriften von Buchdeckeln ändern sich zu überregional bekannten Zitaten mit dem Charakter eines Slogans.

Allein die Vorstellung einer jener sein zu dürfen, welcher einem Goethe oder Schiller in seinen Werken begegnen könnte, torpediert das Unterfangen zur lyrischen Heiligsprechung und wird seither als Ritterschlag empfunden.

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