Der Tag beginnt völlig unbeschwert und das Klingeln des Telefons beeinträchtigt nicht die Ruhe und Gelassenheit des Vormittags. Das Gespräch wird entgegengenommen und erst jetzt nimmt das Drama Anlauf.
»Hallo, wer ist da …?«
Irgendwie kommt ihm die Stimme bekannt vor, aber sie lässt sich spontan keinem Gesicht zuordnen. Die Person nennt ihn beim Vornamen und scheint ihn also zu kennen. Ein Verwandter, Bekannter, Freund …? Eine ausgiebige Datensuche auf dem Massenspeicher beginnt. Grübeln nennt es der Volksmund. Kein Ergebnis. Null Treffer.
Gottlob steht die Person nicht wahrhaftig da, sondern befindet sich am anderen Ende der Leitung. Dass alleine nennt man Glück, denn nun kann geheuchelt werden, was das Zeug hält.
»Ach du bist es«, beginnt er das Gespräch. »Na klar weiß ich wer dran ist – du machst mir vielleicht Spaß.«
Nicht eine Sekunde hat der Langeweiler am anderen Ende der Leitung Spaß verbreitet und das gilt auch für seine Bagage. Warum jeder Verwandte mindestens 400 Kilometer entfernt von ihnen wohnt, hat also seinen Sinn.
»Ach«, geht es weiter, »du willst zu Besuch kommen – na da freuen wir uns aber … nein, nein – bring die Kinder ruhig mit … wir mögen Kinder …«
Er ist zwar alleinstehend, doch es klingt erheblich volumiger, wenn im Chor gesungen wird. Die Freude des Wiedersehens entspricht dennoch der, die bei einer Darmspiegelung entsteht.
»Und wann wollt ihr kommen …? Morgen schon, na toll!«
Das war’s.
Mehr kann einem unschuldigen Vormittag nicht zugemutet werden. Diese kurzfristigen und überfallartigen Dispositionen liegen schwer im Magen. Anständigerweise könnte man sich doch mindestens ein Jahr im Voraus ankündigen. Dann besäße der zu Besuchende ausreichend Zeit sich auch vorzubereiten. Vielleicht will er noch etwas einkaufen, sich verstecken, die Klingel abmontieren, drei Wochen Urlaub im fernen Ausland verbringen oder gänzlich auswandern.
Jemanden mit Entschlossenheit am nächsten Tag besuchen zu wollen, klingt nach einer Drohung und kommt einer Kriegserklärung verdächtig nahe.
Auch hätte er erfragen können, wann exakt mit dem Eintreffen zu rechnen ist. Aber nein, jetzt wird sein gut geölter Tagesablauf durcheinander gewürfelt. Die heikelsten Szenen werden nun in Gedanken durchgespielt. Kaum sieht er sich auf dem stillen Örtchen sitzen, überkommt ihn eine ungewollt innere Eile, die zu üblen Beeinträchtigungen und schlimmen Darmverkrampfungen führen kann, denn schließlich könnte es jeden Augenblick an der Türe läuten und diese mit gefallener Hose zu öffnen, macht selbst unter Verwandten keinen guten Eindruck. Umstände eben, die der Verdauung im Allgemeinen nicht zuträglich sind und ein nervöser Magen ist und bleibt ein nervöser Magen und damit ist keinesfalls zu spaßen.
Das Hirn wird gemartert und will erfahren: Was könnten sie wollen und wieso besitzen sie die Telefonnummer immer noch? Das ist pure Absicht, da ist er sich ganz sicher. Dahinter steckt mehr, als sich im ersten Moment vermuten lässt. Er vertritt sogar die Ansicht, ihn während des Telefongesprächs so fürchterlich gewinnend grinsend empfunden zu haben. In solchen Dingen ist er sehr sensitiv veranlagt. Auch diese Ungewissheit, ob sie mit dem eigenen Wagen oder mit der Bahn anreisen und die letzten Meter mit dem Taxi oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen, bleibt ein Geheimnis und treibt ihn in den Wahnsinn. Nach was soll er hinter der Gardine Ausschau halten? Wie soll er sich angesichts eines solchen Informationsboykotts vorbereiten?
Unsicherheit umgibt ihn. Schwach, blass und völlig ausgemergelt fühlt er sich plötzlich und der Situation komplett unterlegen.
Der Rest des Tages zieht an ihm vorüber, wie ein nach Süden fliegender Vogelschwarm. Am kommenden Morgen erwacht er und beim zweiten Wimpernschlag realisiert er, dass dieser Tag anders verlaufen wird. Der angekündigte Besuch kommt. Das wirft eine Menge seiner liebgewonnenen Gewohnheiten aus dem Gleis und sein innerer Fragenkatalog buhlt um Beachtung.
Stehen ausreichend Sitzmöglichkeiten zur Verfügung? Befinden sich genügend Getränke im Kühlschrank? Selbstverständlich denkt man auch an die Kinder. Was trinken diese Bälger?
Mineralwasser, Cola, Limo oder vielleicht bloß einen Saft? Ich bin hoffnungslos altmodisch und würde Kakao anbieten. Kekse nicht vergessen. Trockenes Gebäck verleitet zum Zugreifen und forciert gleichsam einen geschlossenen Mund … schon allein der Krümel wegen. Es unterbindet auch dieses leidige Gequassel aus der Zeit, als wir noch selbst Kinder waren und die Erinnerungen daran stets mit dem Satz enden: »… und so lange kennen wir uns schon!«. Es klingt eher wie ein Vorwurf und sollte mit einem Fragezeichen verziert werden.
Die Kinder können bei einigermaßen gutem Wetter in den Garten geschickt werden. Vielleicht halten sie den Rasenmäher für ein neumodisches Spielzeug und probieren ihn sogar aus.
Aber womit wird er sie wieder los? Mit einem stupiden Dia-Vortrag, dem prahlerischen Zeigen seiner einzigartigen Briefmarkensammlung, dem Durchblättern von Bilderalben, einem vorgetäuschten Keuchhusten oder dem Simulieren einer stark ansteckenden Geschlechtskrankheit? Für all das ist er zu schwach, zu ehrlich und zu uneigennützig. Nachher wird noch schlecht über ihn gesprochen und das kann er nicht riskieren. Bei ihm soll sich jeder wohl- und wie zu Hause fühlen – wenn auch nur für eine geraume Zeit.
Es kommt dem Verweilen in einem Wartehäuschen der öffentlichen Verkehrsmittel sehr nahe. Alles ist überschaubar, allerseits zugänglich, transparent, trocken und wird dem Bewusstsein unterworfen, sich dort nicht dauerhaft niederlassen zu wollen.
Geräusche dringen an sein Ohr.
Der Besuch kommt.
Papa, Mama und fünf Kinder. Früher war solch ein Unterfangen als Völkerwanderung bekannt und aufgrund des Getrampels drängt sich selbst bei verschlossener Türe der Verdacht auf, es stünde die komplette Kavallerie davor.
Es klingelt.
Gottlob befindet er sich nicht im Badezimmer des oberen Stockwerks. Die Türe jetzt umgehend zu öffnen ließe den Schluss zu, er hätte bereits dahinter gestanden. Also zählt er langsam einundzwanzig, zweiundzwanzig und öffnet dann mit einem »hui, da seid ihr ja … na, gut angekommen?«.
Es ist immer wieder erstaunlich, welch brodelnder Unsinn verzapft wird. Wären der Besuch nicht gut angekommen, hätte man bereits in den Nachrichten von einem Unglück berichtet oder die Klinik hätte schon angerufen. Strahlende Gesichter schauen ihn an. Vielleicht hat es etwas zu bedeuten.
»Kommt erstmal rein. Die Toilette ist gleich hier vorne rechts.«
Es ist besser offen darüber zu sprechen, denn nach einer so langen Reise tut es oft Not, wirkt entspannend und entkrampft das Gesicht.
»Die Jacken und Mäntel hängen wir bitte hier an die Garderobe«, sagt er.
Es ist Hochsommer und niemand zieht eine Jacke an, geschweige einen Mantel. Dusselig redet er daher, aber er mag es nicht, wenn im Wohnzimmer Jacken oder Mäntel über den Lehnen hängen, als handele es sich um Pferdedecken im Stall.
»Immer geradeaus«, dirigiert er die Kompanie, »im Wohnzimmer ist genug Platz für alle.«
Zwei der Kinder stehen tänzelnd auf dem Flur und warten brav aber ungeduldig, bis sie dran sind, zumal sich ein weiteres Kind bereits im Badezimmer befindet. Die lange Reise drückt offensichtlich doch auf die Blase. Dass sich in der ersten Etage eine weitere Toilette befindet, verschweigt er beflissentlich. Manchmal entpuppt sich verhältnismäßige Diskretion als gelungene Vorlage für einen Schabernack. Im Übrigen sollen die Bodenfliesen laut Herstellerangabe farbstabil, nachkaufbar und wasserfest sein.
Und dann sitzt er auch schon inmitten der Runde und stellt die entscheidende Frage: »Na, wie geht’s euch?«
Wahrscheinlich und davon ist er fest überzeugt, gab binnen der letzten 20.000 Jahre niemand eine verwertbare Antwort auf diese Äußerung. Womöglich wurde mit diesem nervigen Satzgebilde sogar der Grundstein für rhetorische Fragen gelegt. Scheinheilig fährt er fort: »Möchte jemand etwas trinken oder einen Keks? Ach was rede ich, die Küche ist da vorne und Kekse stehen auf dem Tisch. Wer etwas möchte, kann sich selbst bedienen, schließlich sind wir alle alt genug.«
Mit dieser sowohl bühnenreifen, als auch pharisäerhaft einwandfreien Darbietung an vorgetäuschter Großzügigkeit, entledigt er sich aller gastgeberischen Aufgaben, für die Dauer des gesamten Aufenthalts und das auf einen Streich.
Genial.
Das dachte er zunächst. Plötzlich entstand so etwas wie Aufbruchstimmung. Alles, was Beine hatte, bewegte sich in Richtung Küche. Selbst die Blasenentleerer standen schon wieder Schlange, wenn auch diesmal am Kühlschrank.
»Wo sind denn die Gläser?«, drang es zu ihm und im selben Augenblick hätte er sich züchtigen können, gehörten doch die Gläser umgekehrt auf den Tisch, um dieser Frage potenziell entgegenzuwirken.
»Im Hängeschrank direkt über der Spülmaschine«, brüllt er zurück.
»Und wo ist die Spülmaschine?«, hört er eine andere Stimme.
»Moment, ich komme schon!«
Genau das wollte er vermeiden. Sich zum Kellner, zum Diener, zum Lakaien und somit zum Affen machen zu lassen.
»Da ist die Spülmaschine und hier oben sind die Gläser drin!«, sagte er mit dem Charme eines Scharfrichters. Dann erklang ein Satz und kam der Glocke beim Boxen gleich: »Hättest du die nicht gleich auf den Tisch stellen können …?«
Er musste den Raum verlassen, andernfalls wäre ihm eine Anklage wegen Körperverletzung sicher gewesen. Tief durchatmen, suggerierte er sich im Wohnzimmer, tief durchatmen.
Die Kolonne traf im Gänsemarsch auch wieder im Wohnzimmer ein, doch sie hinterließ Beweise für ihr Gastspiel in der Küche auf dem Boden. Es macht also doch Sinn, wenn der »Kaffee to go« einen Deckel besitzt.
»Nee lass mal«, begann er gönnerhaft, »ich wisch das später weg.« Außer ihm war niemandem das Malheur aufgefallen oder man übersah die Pfütze absichtlich und reagierte darum nicht. Erst jetzt entstand bei den Verursachern ballettartiges Kopfschütteln, welches eine Art von Bedauern signalisieren könnte. Aber vielleicht war dieser Anschlag von langer Hand geplant und das wahre Motiv der bereits eingangs hinterlistig grinsenden Gesichter.
Nach zum x-ten Mal durchgekauten Szenen früherer Zusammentreffen, bahnte sich die Zeit des Mittags an. Zu Essen war nichts vorbereitet. Absichtlich.
Er ist kein Restaurant und wem steht nachher der Abwasch zu? Der Spülmaschine. Genau. Aber die muss ein- und ausgeräumt werden und das nimmt Zeit in Anspruch. Zeit, die er für diese Personen nicht aufbringen will. Maximal könnte also etwas beim Lieferservice bestellt werden, aber das ist bloß eine Idee. Ein anderer Gedanke flog ihn an und förderte zutage, dass gewisse Menschen nach der Zunahme gewisser Speisen zu gewissen Tageszeiten gewisse Körperhaltungen einnehmen.
Oder anders gesagt: Mittagsschlaf. Und dann ist das Chaos komplett, wenn die ganze Bande faul herumliegt, wie unter Narkose.
Also – und die Parole erging nur an ihn selbst – will die Angelegenheit Mittagessen weiträumig umfahren werden. Alternativ stieß er Themen wie Entschlacken, Übergewicht und BMI an. Besonders bei den Kindern traf er den Nagel so überhaupt nicht auf den Kopf. Unverständnis überfiel sein Gesicht.
Vielleicht fragt er mal nach den Zeiten, die für den Heimweg eingeplant sind. Manchmal wird diese Fürsorge mutwillig falsch interpretiert und als Rauswurf betrachtet. Ja, manchen Leuten kann man nichts recht machen, aber auch nichts verheimlichen. Auch stellt er fest, dass sich sämtliche Personen auf einmal und ohne sein Dazutun vergnüglich unterhalten. Irgendwie fühlt er sich plötzlich als Eindringling und Störenfried in den eigenen vier Wänden.
Er räuspert sich.
Keine Reaktion.
Er steht auf und setzt sich gleich wieder hin.
Keine Reaktion.
Um demonstrativ den Raum zu verlassen, geht er ins Bad und steht dort drei Millimeter vor einem Tobsuchtsanfall, als er feststellt, dass entweder einer der Knirpse oder alle kräftig daneben gepinkelt haben. Er wischt es selbst auf, denn die Eltern waren noch immer nicht in diesem Zimmer. Deren Blase scheint über das Fassungsvermögen eines öffentlichen Schwimmbads zu verfügen.
Als er das Wohnzimmer wieder betritt, stellt er fest, dass der Aschenbecher, der eigentlich nur zur Dekoration auf dem Tisch steht, ohne Scham benutzt wurde und wie er weiterhin feststellt, klebte irgendjemand seinen Kaugummi dort hinein.
»So …!«, sagte er mit einem befreienden Unterton in der Stimme. »Dann werde ich euch mal ein Taxi rufen …«
»Ach lass mal«, hieß es. »Die paar Schritte zur Haltestelle gehen wir zu Fuß.«
»Das ändert sich wohl nie«, fügte er an. »Frische Luft tut gut!« Langsam aber entschlossen drückt er die Klinke zum Öffnen der Türe herunter. »Na dann bis zum nächsten Mal. Schön, dass ihr dagewesen seid. Kommt gut nach Hause und ruft an wenn ihr da seid – also tschüss!«
Es ist immer wieder erstaunlich, wie gerne er seine Verwandtschaft zu Besuch hat.
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