Warten – hmpf

Jul 30th, 2012 by Lutz Spilker

Prinzipiell betrachtet sehe ich mich nicht als ungeduldigen oder zappeligen Menschen, nur warten kann ich schlecht. Allein die Tatsache, dass ich zum Warten verdonnert wurde und es offensichtlich unabänderlich zu sein scheint, bringt mich zur Raserei. Innerlich jedenfalls. Auch Worte wie Wartezimmer, Warteschleife, Wartezone, Warteschlange oder Wartemarke, welche eigens geschaffen wurden, um die synthetische Verzögerung namens Warten, besser beschreiben zu können, zwingen mich auf die Matte.

Aneinandergereiht und einem durchschnittlichen Menschenleben zufolge, wartet man insgesamt länger, als die Erwartung eines kompletten Jahresurlaubs ausmacht und das muss man sich vor Augen führen. Statistiken bestätigen es. Trotz vorheriger Terminierung und mehrfachen Vergewisserns per Rückruf muss man warten. Ob beim Friseur, beim Zahnarzt oder beim Discounter an der Kasse. Man steht oder sitzt in dieser Zeit völlig unbrauchbar herum und befindet sich kurz vor der inneren Zerberstung.

Größere Events besitzen feste Erscheinungstermine und man kann sich danach richten. Geburtstage, Namenstage, Hochzeitstage, Ostern und auch Weihnachten kommen geordnet daher. Allgemeines Warten ist nicht dementsprechend organisiert und eine gewisse Willkür kann nicht geleugnet werden.

Einige Umgebungen lassen vermuten, man mache sich um den Wartenden sorgende Gedanken und kredenzt Ablenkung, in Form alter Zeitungen. Um die Nerven des ohnehin strapazierten Kostüms eines zum Warten Verfluchten nicht übermäßig zu beanspruchen, wurde das Kreuzworträtsel fürsorglich im Vorhinein ausgefüllt. Manche Aspiranten der wartenden Fraktion, bringen sich selbst etwas Literarisches mit. Kurzweil soll die Wartezeit übertrumpfen, zumindest jedoch soll es den Anschein erwecken. Mir kommt es immer so vor, als wollen die Leute bloß angeben und Bildung heucheln. Schau her, ich habe ein Buch und du nicht, ätsch! Schau her, ich kann lesen und du hast kein Buch dabei, ätsch.

Irgendwann kommt man an die Reihe, doch irgendwann ist noch lange hin.

Es muss mit dem Ableben eines jeden Menschen zusammenhängen, welches bei der Geburt schon besiegelt, jedoch nicht datiert wurde. Diese Ungeduld ist zerfetzend. Der Zeitpunkt des Wartens wird ein Ende haben, doch der ist völlig abstrakt. Man hat zu erscheinen und sich zu fügen. Es gilt Haltung zu bewahren, nicht wild um sich zu schlagen oder gar Schimpfworte zu rufen, wie ein Tourette-Kranker. Niemand kann etwas dazu, niemand hat Schuld, niemand ist dafür verantwortlich zu machen, dass jemand warten muss. Das perfekte Verbrechen. Und die Zeit vergeht währenddessen völlig nutzlos, unausgefüllt, spurlos, unbenutzt und unwiederbringbar. Unproduktiver ist der Mensch nur im Schlaf.

Vieles könnte man in dieser Zeit erledigen. Die Steuererklärung liegt z. B. schon seit Wochen parat, die Doktorarbeit könnte finalisiert werden und auch die restlichen Marken fänden endlich den Weg über die Zunge zum Aufklebebogen, um sich damit die neue Pfanne beim Discounter abholen zu können. Oder man wäscht das Auto.

Unschätzbare Summen wechselten schon den Besitzer, weil Warten zur Tortur wurde und man den Arm hob, um ein Taxi herbeizuwinken, anstatt auf den Bus zu warten. In einem Smoking auf dem Weg zur Oper macht man sich in der U-Bahn und außerhalb der närrischen Saison eher verdächtig und den rechten Arm in New York oder in Deutschland zu heben ist auch ein Unterschied. Selbst Gebäude wurden ausnahmslos zum Überbrücken dieser toten Phasen errichtet und der Name Wartehäuschen deutet es ohne Betäubung an. Mit wie viel Langeweile Einzelne bewaffnet sind, lässt sich an der poesiefreien Beschriftung der Wände erkennen. Ja – das ist Nahverkehrslyrik von bleibendem Wert.

Aber nein, man muss warten. Bitte bleiben Sie am Leben, begehen Sie keinen Selbstmord und überqueren nicht unachtsam die Autobahn während der Rush-Hour. Bitte bleiben Sie – um Himmels willen – in der Leitung.

Man sitzt dann da oder steht herum, spitzt die Ohren und erwartet jede Sekunde den Klang seines Namens, macht in der Schlange einen halben Schritt vorwärts oder es erscheint eine Zahl an der Anzeige. Irgendwas weist darauf hin, dass das Warten ein Ende hat und man an der Reihe ist. Aber eine Sekunde zieht sich oftmals in die Länge. Es wird eine Minute daraus und Ruck Zuck ist das Jahr herum. Wie oft sitzt man da und beobachtet völlig unfreiwillig die Person gegenüber. Ist sie männlichen Geschlechts und trägt Vollbart, so ist man geneigt zu fragen, wie lange sie schon wartet. Der geht es ebenso und aus dem Augenwinkel spioniert man seine Umgebung aus.

Allein ist man als Wartender fast nie. Andere Personen warten ebenfalls. Manche sind mit, manche sind ohne Begleitung gekommen. Es bringt keine Vorteile, wenn man Verstärkung dabei hat, es erscheint nur so. Eigentlich zwingt man die mitgebrachte Person auch, sich wartend zu verhalten. Geteiltes Leid ist evtl. doch halbes Leid. Nur ein Brathähnchen ist da anderer Ansicht. Menschen machen seltsame Dinge, wenn sie sich unbeobachtet fühlen oder warten müssen. Irgendwie hat man das Gefühl, sie müssen etwas tun. Es scheint zwanghaft zu sein. Was sie tun ist völlig ohne Belang, nur tun müssen sie etwas und wenn sie bloß mit dem Bein wippen. Das ist mindestens genauso behämmert, wie dieses ziel- und planlose Auf- und Abgehen.

Ansprechen kann man diese Leute auch nicht. Sich zu unterhalten ist irgendwie nicht gewünscht. Allein die optische Zuwendung wird mit latenter Aggression erwidert und der Spruch „Wenn Blicke töten könnten …“ fände hier Applaus. Jeder Andere mutiert nicht zum Leidensgenossen, sondern zum potenziellen Feind, der mit Sicherheit auch für dieses nicht enden wollende Warten verantwortlich ist. Die Haut ist dünner als Bibelpapier und die Hemmschwelle begab sich schon lange in den Feierabend. Leuchtturmartig scanne ich mein Umfeld und stelle fest, dass der mürrische Gesichtsausdruck beste Chancen zum Trend der kommenden Saison besitzt. Jede Beerdigung birgt mehr Stimmungspotential in sich, jede Wette. Man kennt diese Situationen aus Kinofilmen, wenn sich zwei Zahnstocher lutschende Leptosomen gegenüberstehen und die Handinnenfläche am Knauf ihrer langläufigen 45er im gut geölten Halfter reiben.

Ganz daneben ist es jedenfalls, wenn man als Einzelperson grinst oder laut lacht. Der Gegenüber sieht kein Motiv zum Lachen. Es ist niemand da, der ein Lachen auslösen könnte.

Demzufolge hat man als Einzelperson keinen Anspruch auf ungeteilte Fröhlichkeit und Leute wie Robinson Crusoe oder der Graf von Monte Christo, denen ohnehin jedes Motiv zu lächeln fehlte, warteten als Romanfiguren auf ihre Erlösung.

Es ist jedoch oftmals anders und erschwerend addiert sich die Tatsache hinzu, dass Denken ein geräuschloser Vorgang ist und Außenstehende mangels hörbarer Laute die Ansicht vertreten, man täte nichts. Allein darum stehen Yoga, die Meditation und nicht zuletzt auch die Philosophie in einem ungünstigen Licht. Mir wandern unentwegt irgendwelche erheiternden Szenen im Kopf spazieren. Mein Gesicht ist permanent in Bereitschaft und signalisiert Freude und Heiterkeit. Ich erkenne eine gewisse Unsicherheit meines Gegenübers und will ihn an meiner Erheiterung teilhaben lassen.

„Lesen Sie auch diese Asterix-Hefte?“, frage ich jovial, wobei das Wort „auch“ eine gewisse Solidarität anbietet und lediglich dem Small-Talk dient. „Jetzt nicht mehr, früher aber schon“, sprudelt es mit entgegen und ich habe irgendwie das Gefühl, dass mein Gegenüber schon immer darüber sprechen wollte. „Am schärfsten“ fahre ich fort, „ist immer dieses eine Bild von Obelix, wenn er den Leser so fragend und fast Hilfe suchend aus der Heftseite anschaut und hmpf in einer Denkblase steht!“ füge ich an und lache lauthals los, weil mir das Bild durch den Kopf geht und ich endlich ein Gegenüber als Motiv zum Lachen besitze.

Telefon:	+49 (0) 2603 - 508 20 79
E-Mail:	deutschfluesterer@gmx.de

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