Der Erfolg der „Feuchtgebiete“ und der „Schoßgebete“

Aug 23rd, 2011 by Lutz Spilker

Den Kopf zu schütteln und sich zu fragen, warum derlei Literatur die Bestsellerlisten aufrollt, ist pragmatisch betrachtet völlig unsinnig und lässt eher auf Neid, denn auf Verständnis, bzw. Sachkenntnis schließen. Auch unmotiviert zu applaudieren, ist nicht von Rang, man wähnt im ungünstigsten Fall bezahlte Claqœre. Unternehmerisch betrachtet stellen beide Bücher jedoch neue Rekorde auf und sind allein aus der Perspektive eines Verlegers als beneidenswert einzustufen.

Und handwerklich sind die Bücher zumindest lesbar. Lesbar muss es sein, zumal die Autorin Charlotte Roche in beiden ihrer Werke auf Illustrationen verzichtete.

Transponierte man diese Literatur in eine andere Epoche, so erfüllte sie dort wohl kaum ihren Zweck, stopfte keine Lücken und rührte nicht an den Phantasien der Leser. Und zu allem Übel wäre es selbst in der jetzigen Zeit nicht klug, in gewissen Geographien als Frau über geschlechtliche Beziehungen zu schreiben, wenn es so tabulos, wie von Charlotte Roche praktiziert, publiziert würde.

Die Autorin machte sich einen Namen in der Moderation, weniger als Absolventin eines Studiums in Sachen Literatur. Der Drang zur Feder zu greifen kam offensichtlich aus einer anderen Richtung. Der Drang sich mitteilen zu wollen ist glaubhafter, als der, jemanden, selbst wenn es die Öffentlichkeit ist, zu schockieren. Oftmals schockiert man sich selbst, weil etwas Neues, etwas Unerwartetes passiert, auf dass man keinesfalls vorbereitet ist.

Dies kann ein guter Geschmack einer Speise sein, die sich, wie dann die Information preis gibt, als Hoden eines Stieres oder eines Schafbocks entpuppt. Plötzlich entsteht Ekel, dennoch man ohne die Information zu Applaus bereit gewesen wäre. Manches ist demnach kulturbedingt und spielt sich im Kopf ab.

Auch die Phantasie gehört zu diesen, dem Unterbewusstsein befohlenen Empfindungen. In der Welt der Mode weiß man, wie auch in gastronomischen Sphären, damit zu spielen, zu arbeiten und diese defizitären Steuermechanismen vorteilhaft zu nutzen.

Was ohne jedwede Erklärung verstanden wird, Themen, zu denen jeder meint, eine Meinung erübrigen zu müssen, werden als Bestseller bekannt. Fußball, Bier, Jeans und Pizza gehören unbedingt dazu, sind weltweit bekannt und werden ohne seitenlange Anweisungen verstanden, konsumiert und sorgen für einen klingelnden Beutel.

Im eigentlichen Kern kommen beide Bücher recht hemmungslos daher. Um sich von Hemmungen frei zu machen, bedarf es bei vielen Menschen etlicher Therapiestunden, auf jeden Fall ein aufgeschlossenes Verhältnis zu sich selbst oder in der Erziehung verankert, dem Elternhaus. Hinzu addiert sich der Kulturkreis. Mitteleuropa ist nicht Fern- oder Mittelost. Ist Frau Roche also hemmungslos? Die Frage, was jeder unter Hemmungen versteht, bzw. was wen woran hemmt, ist erheblich interessanter.

Spräche man eine x-beliebige Person darauf an, ob sie oder er Darsteller in einem Pornofilm sein wollten, bekäme der Fragesteller sicherlich eine negative Auskunft. Aber selbst die Kassiererin an der Supermarktkasse und der freundliche junge Mann an der Leergutannahme könnten Pornodarsteller sein, man würde es kaum bemerken, denn unsere Blicke fixieren nicht das Gesicht beim Betrachten eine Films dieses Genres. Das sind doch aber vorrangig die allgemeinen Hemmungen, erkannt zu werden und nicht zuletzt auch, sich zu blamieren.

Setzt man sich über diese kultur- und erzieherisch sowohl gegebenen, also auch bedingten Bremsen hinweg, steht dem gänzlichen Ablegen der eigenen Hemmungen nichts mehr entgegen. Konfrontiert man Menschen mit ihren Taten und zeigt zum Beweis ein Video, auf dem jemand an einen Baum pinkelt, so erfährt man als Rechtfertigung, dass der Täter alkoholisiert war. Anders gesagt, war die Hemmschwelle herabgesetzt oder gar gänzlich verschwunden.

Es mag den einen oder anderen pikieren, aber zum Führen eines Fahrzeugs bedarf es eines Führerscheins, also einer Art Qualifikation. Kinder kriegen, Kinder zeugen und Kinder erziehen darf jeder ohne irgendeinen Nachweis. Kinder zeugen, also Sex machen, haben oder ausüben, kann und darf somit ein Jeder. Auch hat jeder zu diesem Thema und nicht zuletzt aufgrund gewisser Erfahrungen und eigener Vorlieben, eine Meinung.

Trägt man diese Meinung mit sich herum und lässt niemand daran teilhaben, betreibt keinen Austausch oder ist ohnehin gehemmt, dann bliebe jedoch das Füllen eines Tagebuchs. Hier kann man sich austoben und über Dinge berichten, die sich lediglich im Leben des Schreibers abspielen.

Betrachtet man die Gegebenheiten, über die es sich zu berichten lohnt nicht persönlich, weil sie beobachtet, jedoch nicht selbst erlebt wurden, entstehen diese Situationen sogar in der Phantasie und man kokettiert mit dem Effet der Phantasie des Lesers, so entstehen diese Zeilen einer Charlotte Roche, welche ohne falsche Scham und ohne falsche Hemmungen auszukommen in der Lage sind. Es ist nicht der Ekel, der dem Leser entgegenschlägt. Es ist die Information, dass das just zu sich genommen, gut Schmeckende, die Testikel eines anderen Lebewesens sind und die menschliche Vorstellungskraft besorgt den Rest.

Schriftliche Versuche diesen (Ekel) Effekt zu toppen, schlugen fehl, zumal die Thematik zu jeder Sekunde darauf deutete und das Ansinnen mehr plakativ, denn genial realisiert wurde. Es mag sein, dass Charlotte Roche zu keiner anderen Art der Literatur fähig ist. Ein Loch im Bücherregal wird dadurch nicht entstehen. Ebenso mag es sein, dass Charlotte Roche gerade mit dieser Thematik vom Einerlei abzulenken versteht und jeden mitreden lässt. Kreativ wäre es in jeder Form und zur Nachahmung empfohlen.

Leseproben und andere Informationen findet man hier zu FEUCHTGEBIETEN und zu SCHOßGEBETEN.

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