Es sind diese Abende, die meist schon am Morgen beginnen und einen regnerischen Mittag beinhalten. Sie enden dann entweder in Unmengen von Rotwein oder in Selbstmord beschleunigender Melancholie. Sämtliche Vorräte an Tempos werden dann aufgebraucht. Aber zum Glück spendiert der Apotheker beim Kauf eines Sechser-Packs Klosterfrau-Melissengeist immer welche. Früher habe ich ja noch Rasierwasser gegurgelt, aber das gibt’s nicht mehr auf Krankenschein.
Der Melissengeist ist alkoholhaltig, denn nur so stabilisiert man auch tagsüber seine Laune. Als ich am frühen Nachmittag unrasiert und im Bademantel zum Briefkasten schlurfte, fiel mir eine dieser Zeitungen in die Hände, die scheinbar in jeden Briefkasten geworfen werden. Dutzende von Prospekten buhlten im inneren Teil auf Beachtung. „No Post – no Trouble“ ist meine Devise und mit der fahre ich schon seit Ewigkeiten fehlerfrei.
Und dann lese ich „Ü70 Party“ auf einem Zettel, der den Eindruck erweckte, er wäre eher zufällig in der Zeitung gelandet.
Keine Einladung vom Altersheim, keine Veranstaltung des städtischen Sozialwerks, nein, eine richtige Party in einem beheizten Zelt für Leute über 70 Lenze. Als besonderer Clou des Abends steht die Verlosung des „Goldenen Stützstrumpfs“ auf dem Programm. Das sollte man keinesfalls verpassen und ich entschließe mich diese Party zu besuchen. Zeit habe ich ausreichend, ab 8 Uhr abends ist erst Einlass.
Und schon beginnt dieses völlig bescheuerte Auswahlverfahren im Kopf: Fahre ich selbst, kann ich nichts trinken, zumal mein momentaner Führerschein der letzte des 10er-Blocks ist. Fahre ich mit jemandem mit, bin ich auf das Kommen und Gehen dieser Person angewiesen. Fahre ich jedoch selbst, trinke etwas zu viel und werde bei einer Kontrolle ertappt, habe ich gelitten. Nehme ich ein Taxi, fehlt mir nachher das Geld an den Drinks. Es ist zum Erschießen. In öffentlichen Verkehrsmitteln macht man sich als Fahrgast in Party-Garderobe außerhalb der Faschingszeit komplett zum Affen.
Das Beste wird sein, ich rufe meinen alten Schulfreund an und wir organisieren etwas. Im Organisieren ist er super, warum man ihn bei der Wehrmacht auch zum Versorgungstrupp steckte. Später war er dann viele Jahre Vorsitzender bei den anonymen Pinselquälern und bezog schon sehr früh Rente. Na also, seine Schwester fährt uns hin und holt uns auch wieder ab, damit wäre der Transport geregelt. Um halb 8 kommt sie mich abholen, klasse. Endlich mal ein Abend ohne Glotze und ohne das stupide Stammtischgelaber über die besten Rezeptfälscher und erschlichene Kuraufenthalte.
Liebe auf den ersten Blick, der zweite fand nie statt.
Jetzt wäre es Zeit, sich einige Gedanken über die Tapete zu machen, denn für den ersten Eindruck gibt’s keine zweite Chance. Vielleicht klettere ich auch noch schnell in die Wanne, denn 2 Mal im Monat zu baden macht die Haut auch nicht dünner. Rasieren wäre ganz gut und evtl. ein keckes Rasierwässerchen aus dem Fundus der Weihnachtsgeschenke. Ich bin richtig gespannt, wer sich da alles die Ehre gibt. Vielleicht kommen auch Hilde und ihr Kegelclub „Die begossenen Pudel“. Ja, da sind scharfe Bräute dabei. Die Eine habe ich mal abgefüllt und abgeschleppt. Als ich aber ihre leberwurstfarbenen Dessous zu sehen bekam, rutschte meine Flagge auf halbmast und die blauen Pillen hatte ich dummerweise verliehen.
In einer kleinen Zweizimmerwohnung finden riesige Kleiderschränke kaum Platz und die Auswahl der Garderobe ist daher überschaubar. Man betreibt irgendwie eine Art Rollenspiel, wenn man außer Haus geht. Besonders dann, wenn man sich zu einer Ü70-Party begibt und noch nicht weiß, wen man bei der Rückkehr dabei haben wird. Geht man also als Dandy, als Gentleman, als Naturbursche oder vielleicht als Opa-Typ? Ich beginne unten, mit den Schuhen, und wandere zunächst durch meinen begehbaren Schuhschrank, in der Hoffnung inspiriert zu werden.
Open-End steht auf dem Zettel. Das heißt für mich, die Schuhe müssen recht lange bequem sein und ich entscheide mich nach etwa 15 Minuten spontan für die dunkel-lila Lackschuhe mit den eingearbeiteten orthopädischen Einlagen. Dazu trage ich schwarze Socken und eine Jeans, die ich, des Komforts wegen, an Hosenträgern festmache. Jeans kann man immer tragen, selbst bei der Beerdigung von der dicken Bertha hatte ich eine an.
Ein Hemd, ein Hemd, ein Hemd…
Aber welches bloß? Das Kurz- oder das Langärmlige? Ich denke, das mit den kurzen Ärmeln ist flippiger. Und nun noch eine Jacke mit vielen Taschen, wo soll man seinen Klimbim sonst verstauen? Frauen haben’s da gut, die nehmen stets eine Handtasche mit. Aber als Mann mit einer Handtasche überm Arm? Das kommt vielleicht falsch rüber.
Und kaum kämme ich mir die Augenbrauen nach, lege noch ein wenig Haarspray auf, klingelt es schon und ich werde abgeholt. Pünktlich wie der Feierabend, steht das Auto vor dem Haus, das nenne ich Service. Hui, da geht sie auch schon los, die wilde Fahrt. Nach ca. 20 Minuten sind wir da und begeben uns ins vorgewärmte Zelt. Bill Ramsey kommt uns entgegen und berichtet von vielen Souvenirs, jedenfalls akustisch. Andererseits ist es wie auf einem Friedhof, man begegnet vielen Toten. Peter Alexander und Rex Gildo, Drafi Deutscher und auch Freddy Breck. Jedenfalls akustisch. Allein vom Zuhören wird man jünger, bekommt so einen seltsamen Schwung in den Knien und will zur Tanzfläche stürmen, um dort eine flotte Sohle zu Ernst Mosch und den Original Egerländer Musikanten aufs Parkett zu legen. Ja, die Wahl des Schuhwerks hat sich als klug erwiesen.
Die Stimmung ist herrlich ungezwungen. Einige Gäste scheinen zuhause schon ein wenig vorgeglüht zu haben. Der DJ lässt gerade James Last laufen und dreht ein wenig auf. Das Spiel des Lichtes der Scheinwerfer taucht die Kulisse in eine farbige Flut und ich glaube, noch nicht einmal im Märchen würde es schöner sein. „An der Sektbar stehen die schärfsten Bräute“, meinte mein Freund fachmännisch. Also schlendern wir dahin. Ein schneller 180 Grad-Blick bestätigt, dass er recht hat. Eine Stute wilder als die nächste. Routiniert bestelle ich auch ein Glas Sekt, obwohl ich das Gesöff nicht gut vertrage. Die kleinen Luftbläschen scheinen sich in meinem Magen um das Hundertfache zu vergrößern und wollen dann wieder raus. Das nennt man volkstümlich „rülpsen“ und es wirkt bei einem intimen Gespräch eher störend. Alkohol macht mich hemmungslos, provokant, unerträglich, laut und aggressiv, zerstörungswütig, pöbelhaft, streitsüchtig, brutal, zornig und maximal unausstehlich. Anders gesagt: Alkohol vertrage ich nicht ganz so gut.
Der DJ kündigt die Verlosung an und kurbelt ein wenig an der Lostrommel, die mich an eine Waschkugel erinnert, welche schon in einer Sendung mit Jürgen von der Lippe ihren Dienst als Lostrommel verrichtete. Die offensichtlich nachträglich eingebauten Plexiglaselemente, lassen einen Blick ins Innere zu. Es scheinen eine Menge Lose verkauft worden zu sein. Wenn doch bloß mein Freund gewänne, dann hätte er für seine Schwester ein tolles Geschenk und die Hin- und Herfahrerei wäre nicht völlig umsonst gewesen. Aber nicht er, sondern ich gewinne den Hauptpreis. Die „Goldenen Stützstrümpfe“ gehen an mich und werde sogleich umstürmt, als hielte ich einen Lotto-Sechser in den Händen. Da ich selbst kaum Verwendung für die Teile habe, sieht man mir wohl trotz der minimalen Beleuchtung an, dass ich mich des Gewinns zu trennen beabsichtige. Wie macht man den Damen nun auf möglichst charmante Art klar, dass der just erhaltene Gewinn schon einen neuen Besitzer hat? Jetzt wäre ein kräftiger Schluck Rasierwasser erforderlich, dann ist die Situation schlagartig gebügelt. Das Mitbringen eigener Getränke ist jedoch untersagt, stand auf dem Zettel und daran habe ich mich leichtfertig gehalten.
Humba, humba, humba, täterä…
Eine Uhr am Handgelenk trage ich nicht und weiß daher auch nie wie spät es ist. Uhren sind mittlerweile fast überall dran und drin, sodass eine weitere am Körper so etwas wie „Schmuck am Nachthemd“ darstellt. Irgendwann wird wohl irgendwer zum Rückzug blasen und die letzte Runde kann an den Theken geordert werden. Die Stimmung ist grandios und eine gewisse Pärchenbildung deutet sich mittlerweile auch an. Es sei denn, dass einige Herren ihre Damen bloß stützen und vor einem Oberschenkelhalsbruch bewahren, oder umgekehrt.
„Humba, humba, humba, täterä …“ schallt es aus den Lautsprechern und eine Polonaise vibriert durchs ganze Zelt. Selbst Rollator-Chauffeure haben sich eingehakt. Das bringt den Kreislauf in Wallung, ist auch für Tanzmuffel geeignet, schnell erlernbar und selbst für schüchterne Zeitgenossen extrem beziehungsfördernd. Ich schaue mir das Spektakel aus sicherer Entfernung an, man muss nicht jeden Mist mitmachen. Mein Freund ist inmitten dieser hüftschwingenden „Supermarkt-Kassen-Schlange“ und winkt mir einladend zu, doch die Verlockung ist gerade noch zu bändigen. Ich proste ihm dankend zu und lächle kurz, um Fröhlichkeit zu heucheln.
Unter Leuten zu sein, wie man so sagt, ist ab und zu ganz nett, aber als Dauerzustand unerträglich. Könnte ich mich doch bloß nach Hause beamen, ich würde es in vielen Situationen sofort tun.
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